Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann haben ein Buch über „Das erste Leben der Angela M.“. geschrieben. Ohne Kompromisse hätte sich die junge Angela Merkel nicht entwickeln können, meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger nach der Lektüre.

Stuttgart - Da dachte man, die Besserwessis wären ausgestorben. Doch siehe, in zwei weithin Unbekannten, die sich auf gut 300 Buchseiten über „Das erste Leben der Angela M.“ hermachen, sind sie wieder auferstanden. Ralf Georg Reuth, Jahrgang 1952, und Günther Lachmann, 1961 geboren, beide in der Bundesrepublik aufgewachsen, wissen ganz genau, wie die spätere Kanzlerin in ihrer DDR-Jugend hätte leben müssen, aber bedauerlicherweise nicht gelebt hat. Systemnähe kreiden sie ihr an, ihr Herz habe nicht für die deutsche Einheit geschlagen, sie sei Mitglied in der FDJ und der Betriebsgewerkschaft, außerdem zuständig für Propaganda gewesen. Und so eine Wendehälsin wird in unserer lupenreinen BRD am Ende CDU-Vorsitzende und sogar Bundeskanzlerin? Igitt!

 

Nun gibt es gewiss viele Gründe, Angela Merkel zu kritisieren. Aber dieser ist billig. Es ist die immergleiche Masche, einen prominenten Menschen zu demontieren, um selbst wahrgenommen zu werden und ins Geschäft zu kommen. Das gelingt auch hier, und zwar nicht nur auf Kosten der Regierungschefin. Die kann und muss das aushalten. Ziemlich unerträglich erscheint mir jedoch der pharisäerhafte Blick von spät geborenen und verwöhnten Westmenschen auf das Leben einer Jugend unter den Zwängen der totalitären Diktatur im deutschen Osten.

Es herrschte ein Zwang zur Anpassung

Joachim Gauck, bevor er das höchste Amt in diesem Staate übernahm und noch als Demokratielehrer die westlichen Bundesländer bereiste, erzählte immer höchst anschaulich, wie das war: wie der Einzelne dort drangsaliert wurde, und wie es insbesondere junge Menschen traf, die aus bürgerlichen Familien stammten oder sich nicht anpassen wollten. Sie durften kein Abitur machen, konnten nicht studieren, hatten keine Möglichkeit, ihre Talente zu entwickeln. Schon weit unterhalb des Schreckensschicksals, am Ende in Bautzen einsitzen zu müssen, sahen sich DDR-Bürger derart um ihre Lebenschancen gebracht, wobei es diesem Staat völlig egal war, dass er damit auch die eigenen Ressourcen zerstörte. Hauptsache, es standen alle in Reih und Glied.

Der Zwang zur Anpassung konnte schon sehr früh beginnen, etwa mit der Aufforderung, bei den Jungen Pionieren mitzumachen oder in der FDJ aktiv zu sein. Solchen Ansinnen musste man nicht gehorchen, doch man musste die Folgen tragen. Willst du dich hier ausschließen? Siehst du nicht, was der Staat für dich tut? Meinst du nicht, dass du dem Sozialismus etwas schuldig bist, wo doch der Sozialismus die einzig richtige, wissenschaftlich abgesicherte Gesellschaftsform ist? So ging das.

Die Kirche bot eine Nische

Was aber veränderte sich, wenn man Nein sagte? Zunächst nichts Gesamtpolitisches, aber etwas sehr Persönliches. Der Verweigernde durfte sich ganz bei sich selbst, bei seinen eigenen Maßstäben und im Einklang mit seiner höchstpersönlichen Moral fühlen. Er nahm es hin, dass ihm Chancen verweigert wurden, dass ihn die Stasi ständig bespitzelte. Womöglich beschied er sich sogar, in einer LPG Kühe zu melken, anstatt Abitur zu machen, oder wie Angela Merkel in Leipzig Physik zu studieren und eine Doktorarbeit – Chapeau, Chapeau! – über den „Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“ zu schreiben.

Manche, wie Joachim Gauck oder der spätere Humboldt-Professor Richard Schröder, retteten sich in die Nische der Kirche, absolvierten dort ein Theologiestudium. Sie wurden Pfarrer und verstanden es schließlich in der Zeit der Wende, den Gefühlen der Menschen beredt Ausdruck zu verleihen. Sie waren keine Mitläufer – wie das in der Nachnazizeit hieß – , aber Widerständler waren sie auch nicht, und ebenso wenig die Totengräber der DDR. Das war, wenn man es mit Hegel sagen will, der Weltgeist und sein Vollstrecker Michael Gorbatschow, der die russischen Panzer in den Kasernen ließ, ganz anders als seine Vorgänger am 17. Juni 1953 in Berlin oder später 1968 in Prag. Nur deshalb endete die wunderbar gewaltlose Revolution im Osten nicht in einem Blutbad.

Wer wirklich Widerstand leistete, riskierte Leib und Leben, mindestens aber das bisschen Freiheit, das man hatte. So ein Mutiger oder eine Mutige wurde in den Anfängen der DDR noch umgebracht, später eingesperrt, isoliert wie die Dissidenten Bahro und Havemann, oder in die Bundesrepublik ausgewiesen wie der freche Sänger Wolf Biermann, was ja nicht das Allerschlimmste war. Das System haben sie durch ihre Systemferne nicht ins Wanken gebracht. Doch ihr Opfer wurde immerhin weit über die Grenzen der DDR hinaus wahrgenommen. Es hat diesen Staat nicht destabilisiert, aber diskreditiert hat es ihn.

Die DDR war ein übles Gefängnis. Vor dem 9.November 1989 wusste niemand, wann das einmal enden würde und ob die geschundenen und geschurigelten Menschen noch einmal in Freiheit leben dürften. Was für eine Überheblichkeit, so ein eingeschränktes, auf Kompromisse angewiesenes Dasein als „systemkonform“ zu denunzieren und an den herrlich unbeschwerten Zuständen in unserer schönen Bundesrepublik zu messen!