Es ist eine alte Geschichte, dass mächtige Männer das Maß und den Verstand verlieren. So auch der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan, meint Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Recep Tayyip Erdogan ist krank. Er leidet an der Macht, was überwiegend Männern widerfährt, die sich zumeist aus kleinen Verhältnissen hinaufgestrampelt haben und nun in höchsten Ämtern sitzen, von zahllosen Würden umstrahlt, von tausend Liebedienern umschwärmt, ein Land regierend und ein bisschen auch die ganze Welt lenkend. So ist es, und so soll es bleiben. Von nun an bis in alle Ewigkeit. Doch wehe, welch‘ Unrecht, da melden sich tatsächlich auch die anderen Strampler, die Verräter und Frondeure. Sogar leibhaftige Putschisten erheben ihr schändliches Haupt, wollen den Machthaber stürzen. Zur Hölle mit ihnen. Den Folterknechten überliefert. An die Wand. Herbei also, ihr Gläubigen, kämpft für euren Retter, diesen Wohltäter der Menschheit, demonstriert, denunziert! Denn er ist unersetzlich. Sogar den Allmächtigen hat er auf seiner Seite. Es ist der Gott, der Putsch-Geschenke macht. Sultan Tayyip, unser Flüchtlingsfreund, hält sich für einen Auserwählten. Jetzt beansprucht er die ungeteilte Macht. Er ist, Allah sei’s geklagt, ein klassischer Fall. Der türkische Patient.

 

In erster Linie hat er Angst. Das ist das hervorstechendste Symptom. Und es muss eine schreckliche Angst sein, eine ganz tief sitzende Angst, eine Art Todesangst vor dem Nichts, aus dem er kommt, vor der Machtlosigkeit, in die er zurückzufallen droht. Sonst hätte er doch nicht schon vor dem Putsch tausendundeine Beleidigungsklage in die Welt gesetzt; sonst hätte er, der riesengroße Staatspräsident, sich nicht über den klitzekleinen Satiriker Jan Böhmermann erregt; sonst hätte er nicht Journalisten vor Gericht und ins Gefängnis gebracht. Er fühlt sich verfolgt, von allen und jedem. Der Putsch hat diese Paranoia erst recht voll aufblühen lassen.

Der Griff nach der totalen Macht

Jetzt schlägt er um sich, startet eine Art Staats-Amok gegen Richter, Polizisten, Abgeordnete, Lehrer, Wissenschaftler, die er zu Tausenden aus ihren Ämtern jagt oder verhaften lässt. Man fragt sich, wie dieser Staat noch funktionieren und von wem er künftig umgetrieben werden soll. Da der Präsident überall Feinde wittert, auch dort, wo sie nicht sind, muss er eben auch überall „säubern“, wie einst Genosse Stalin, nicht nur in der putschbelasteten Armee. Schluss also mit der Gewaltenteilung, die ja erfunden wurde, um die Machtkrankheit im Zaum zu halten. Weg mit der Unabhängigkeit der Richter, Meinungsfreiheit ade, Grundrechte in die Tonne. Her mit der totalen Macht. Die reicht nach seiner Auffassung bis hin zur Bundesrepublik, wo er die türkisch-stämmigen Bürger offenbar nach wie vor seinem Herrschaftsbereich zuschlägt, wo er die verschiedenen Gruppen gegeneinander aufhetzen lässt, wo er den Abgeordneten des Deutschen Bundestags die Armenien-Resolution verübelt, weshalb sie unsere Soldaten in Incirlik nicht besuchen dürfen. Und warum soll er sich nicht auch noch mit der Weltmacht Amerika anlegen und die Herausgabe des ehemaligen Freundes und heutigen Todfeindes Gülen verlangen?

Kein Zweifel, da schimmern Allmachtsfantasien durch, da blitzt Größenwahn auf. Es handelt sich um die Kehrseite der Angst, ihr kompensatorisches Element, ein notorisches Symptom dessen, dem die Macht den Verstand raubt. Es wird nicht gut ausgehen. Es ist noch nie gut ausgegangen. Oft nicht für den Machtkranken, seltener noch für sein Volk, auch wenn ihm das vom Anfang bis zum bitteren Ende zujubelt. So auch hier, als ob dieser Tumult, dieses Fahnenschwenken die Demontage einer modernen und für die Zukunft gerüsteten Türkei außer Kraft setzen würde. Solange sein Machtgefüge hält, interessiert Erdogan der drohende Absturz des Landes offenkundig keinen Deut. Er ist ein Egomane, ein Narziss. So einem ist es schnuppe, wenn das Volk sein eigenes Unglück bejubelt. Da muss man nicht an Goebbels, den Sportpalast und den totalen Krieg denken. Wie wir seit dem Brexit-Beschluss wissen, sind nicht einmal die vernunftbegabten Engländer davor gefeit, sich in ein Desaster hinein zu jubeln.

Europa ist reichlich hilfslos

Lasst also alle Hoffnung dahingehend fahren, die Türkei samt ihrem machtkranken Chef befreiten sich rasch aus dieser Fehlentwicklung und der Rechtsstaat hätte doch noch eine Chance, um die Folgen des missglückten Putsches menschen-und demokratiewürdig zu bearbeiten. Die Zeiten sind einfach nicht danach.

Nicht Fortschritt, sondern Regression ist angesagt, Rückbesinnung auf eine längst vergangene nationale Größe, auf eine vermeintliche nationale Autarkie - und das im Zeitalter der Globalisierung. Da wollen es die Völker und ihre Verführer nun mal heimisch und gemütlich haben. Recep Tayyip Erdogan bedient diesen Wunsch. Er gibt den Sultan in seinem Tausend-Zimmer-Palast. Ich frage mich nur, ob er sich um der Authentizität willen nicht auch einen Harem zulegen muss? In Polen spielt sich Jaroslaw Kaczynski als Klein-Erdogan auf und versucht über seine PIS-Partei das Verfassungsgericht auszuhebeln; in Ungarn schränkt die Orban-Regierung die Meinungsfreiheit ein. Und in den Vereinigten Staaten hat ein dummer, egozentrischer, nationalistischer, rassistischer, ja faschistoider Schreihals durchaus Chancen, Präsident zu werden. Wir Deutschen, von den Folgen der allerschlimmsten Machtkrankheit geheilt, sind, zusammen mit anderen Europäern, das Weltkind in der Mitten – und reichlich hilflos sind wir leider auch.