Die Feuerzeichen des Weltkriegs sind auch 70 Jahre nach seinem Ende noch nicht alle gelöscht – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger..

Stuttgart - Da liegt es selbstgefällig auf dem Hügel, das Dörfchen mit der außerordentlichen Geschichte. Zwei Kirchtürme streckt es keck in den blitzeblauen Himmel, lässt ein paar rot-beziegelte Dächer in der Frühlingssonne glänzen und tut so, als sei hier seit Napoleons Zeiten nichts Aufregendes oder gar Veränderndes mehr geschehen. Doch Nussdorf, zwischen Stuttgart und Pforzheim gelegen – diese schmucke Ansammlung ursprünglich bäuerlicher Gehöfte – ist nicht mehr die Dorfschönheit, die es einmal war. Im Gegensatz zu allen anderen Orten in der Umgebung, hat es die schwersten Verletzungen erlitten. Fast ist es ganz ausgelöscht worden in einem Feuersturm am Ende des Krieges. Kaum weiß es noch jemand im etwas weiteren Umkreis. Aber ich kann sagen, ich bin dabei gewesen. Ich sah die SS-Einheiten hereinspazieren, die ausgerechnet hier, in der schwäbischen Idylle, den längst verlorenen Krieg noch gewinnen wollten. Denn von hier oben aus hatte man einen wunderbaren Überblick, hier konnte man sich ein letztes Mal als Feldherr fühlen. Und so zogen sie der Dorfschönheit mit den vielen Nussbäumen einen Soldatenrock an. Nussdorf sollte eine Festung sein.

 

Viele Bauern ahnten wohl, was kommen würde und flohen mit ihren Familien und dem Vieh. Andere stiegen in die Keller hinab in der Erwartung, die Front würde sich hier nicht festfressen, sondern weiterziehen. Meine Eltern entschieden sich für den Verbleib, und so versanken wir mit 80 Bauersleuten im sogenannten Bierkeller, einer riesigen Höhle, am Rande des Dorfes, wo jede Familie einen Quadratmeter ausgebreitetes Stroh zugewiesen bekam. Für meine Großmutter reichte ein Zipfel davon, um neben mir zu sterben. Draußen aber, vor dem verbarrikadierten Tor, wo die Granaten der französischen Artillerie unablässig über uns hinweg pfiffen, lockte der herrlichste Frühling. Apfel-und Birnbäume explodierten in einer berauschenden Blütenpracht. Die Kühe, die vor unserem Eingang angebunden waren, lieferten brav ihre Milch ab. Kartoffeln gab es reichlich. Auf dem Herd am Eingang wurden sie weich gekocht, und während die Bauern beteten oder „auweh, auweh“ murmelten, sang meine Mutter „Muss ich am Herde stehen, muss Feuer zünden…“

Die Jagdbomber streuten Feuer über dem Dorf aus

Die SS jedoch, diese fanatische Truppe, die sich unserer bemächtigt hatte, errichtete kurz vor Toresschluss auf dem Nussdorfer Hügel noch eine Filiale des nationalsozialistischen Schreckensregimes. Zwei angesehene Bürger sollten gehängt werden, weil sie die weiße Fahne gehisst hatten, was ein einsichtiger Militärrichter in letzter Sekunde verhinderte. Oskar Baral, dem tumben Knecht des Löwenwirts, war weniger Glück beschieden. Weil er den Befehl des Hauptsturmführers Warbeck verweigerte, mit seinem Fuhrwerk für die SS zu fahren, erschoss ihn ein Feldwebel auf des Sturmführers Befehl wie einen räudigen Hund.

Dann kamen die Jagdbomber, streuten Feuer über dem Dorf aus bis alles brannte. Auch die Scheune über unserer Höhle ging in Flammen auf und sandte uns die Spuren davon durch die Belüftung nach unten: loderndes Heu und Stroh, dazu beißenden Rauch. Im Keller wurden nasse Tücher verteilt, durch die wir atmen sollten. Ich dachte, dass wir nun sterben müssten, obwohl ich noch keine Vorstellung davon hatte, was das bedeuten würde.

Die Franzosen erwiesen sich als menschlich

Dann, plötzlich, waren die Franzosen da, und die Schlacht, gewiss eine der letzten dieses Krieges, war entschieden. Ende. Aus. Nussdorf, die Schönheit vom schwäbischen Lande, zu drei Vierteln zerstört, ein schmauchender Haufen von Gebäuderesten. Die Eingeborenen sprachen vom Zusammenbruch. Als die Franzosen nicht mehr schossen und sich erstaunlicherweise als menschlich erwiesen, schoss die SS noch einmal zurück und tötete ein kleines Mädchen. Wir hingegen lebten und konnten es kaum glauben. Zwölf Tage und zwölf Nächte hat die Qual gedauert. Danach waren meine Mutter, eine rassisch Verfolgte des Dritten Reiches, und ich, der Mischling ersten Grades, sehr krank. Bis zu diesem Punkt, immerhin, hatte die Kraft gereicht. Genau siebzig Jahre liegt das zurück.

Vor genau siebzig Jahren begann auch das neue Leben. Die Verfolgten waren nicht mehr verfolgt. Nussdorf wurde wieder aufgebaut. Aber niemand kann sagen, das Dorf sei nun schöner als zuvor oder zumindest so schön, so anheimelnd-schwäbisch wie es einmal war. Es ist geflickt worden, es hat schmerzende Wunden, es trägt hässliche Narben. Doch es erinnert sich wacker, um erlöst zu werden, wie Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede, eine altjüdische Weisheit zitierend, forderte: mit Ausstellungen, Vorträgen, Theateraufführungen und Gedenkveranstaltungen. Denn ihm ist, obwohl es nur den einen Grund seiner Höhenlage gab, geradezu exemplarisch widerfahren, was sich ganz Deutschland mit der Begeisterung für Adolf, den Jahrtausendverbrecher, eingehandelt hat. So musterknabenhaft wir uns auch gebärden, so hilfreich wir in der Welt auftreten, wir gelten gleichwohl als prinzipiell schuldig. Sogar der Bundespräsident streut Asche auf unser Haupt. Die Griechen dürfen unsere Kanzlerin beleidigen und gleichzeitig Geld fordern. Wir alle sind Gebrannte, sind Nussdorfer, wir sind gezeichnet – offenbar auf unabsehbare Zeit.