Wir sind wieder ein Volk, aber die Schäden aus den Zeiten der DDR bleiben – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Damals in Naumburg, anno neunzig, auf einer meiner ersten Erkundungsreisen im deutschen Osten: ein bewegender Moment reiht sich an den anderen. Im Dom lächelt die steinerne, fast achthundert Jahre alte Uta so unglaublich jung und lebendig. In den alten Gassen hinter dem Marktplatz, wo die Häuser zerbröckelt und zerfallen sind und aus toten Fensteraugen schauen, weht allenfalls im Zimmer eines Untergeschosses noch ein Vorhang. Beim Betreten der Wenzelskirche, gleich neben dem Rathaus, braust in eben diesem Moment die Barockorgel des Meisters Hildebrandt auf, und ein mächtiges Bach-Präludium treibt mir die Tränen in die Augen.

 

Jetzt war ich wieder da – bei Uta, ihrem Gemahl Ekkehard und den anderen unnachahmlichen Stifterfiguren. Ich ging durch die Gassen um den Marktplatz, alle mittlerweile schön wiederaufgebaut, restauriert und zartbunt bemalt. Am Tor zu St. Wenzel wartete ich vergeblich auf den Orgelschall. Es blieb ganz still. So still wie sich die ganze Stadt in diesen Tagen darbietet.

Blühende Landschaften über den Osten geklebt

Natürlich ist sie ansehnlich hergerichtet. Es gibt die Schuh- und Klamottenläden wie im Westen, die Drogerien und Discounter. Der Museumsbetrieb rund um den Dom ist bestens organisiert. Aber Menschen, Gewimmel und Gedränge gibt es nicht. Kaum 100 Meter vom Dom entfernt herrscht tote Hose. Und im Jahre 22 nach der Wiedervereinigung ist es nicht die Orgelmusik, die einen im Zentrum der alten Stadt zum Weinen bringt, sondern die Leere, diese aufgesetzte Gepflegtheit, das Verzuckerte im Osten, hinter dem sich so sichtbar ein Mangel an Leben und Betriebsamkeit verbirgt.

Es ist, als ob der Westen die von Helmut Kohl einst versprochenen blühenden Landschaften über den Osten geklebt hätte. Lauter Abziehbildchen, aber darunter und dahinter lauert die Ödnis. Sogar in Leipzig, mitten in dieser großen Stadt, an lauen Sommerabenden, wenn sich anderswo, weiter westlich, Straßenfest an Straßenfest reiht, fühlt man sich für Momente in die grauesten Zeiten der DDR zurückversetzt.

Berlin Mitte – Attraktion für Jugend aus aller Welt

Aber hinter Berlin-Zehlendorf, im brandenburgischen Kleinmachnow, das früher jenseits der deutsch-deutschen Grenze lag, tobt heute der Bär. Hier wird gebaut und gebaut. Autoschlangen ohne Ende winden sich durch den Ort. Im Supermarkt verblüfft ein nachgerade luxuriöses Angebot, wie es in Schwaben – liegt’s an unserer Bescheidenheit? – kaum einmal zu finden ist. Da freut sich der Ossi und hat schon lange vergessen, dass er einer ist. Wahrscheinlich weiß er auch gar nicht mehr, wie kärglich die Einkaufsmöglichkeiten hier zu realsozialistischen Zeiten waren. Dem Westmenschen aber gehen die Augen über. Er wähnt sich in der Schweiz oder in Frankreich – Vorgefertigtes, Nachgefertigtes, Feinstgefertigtes. Da haben sie uns also in ihrem Anspruch an die Qualität des Lebens und den Möglichkeiten, ihm zu genügen, glatt überholt. Hier ist aufs Angenehmste und Verwöhnendste zusammengewachsen, was zusammengehört.

Auch an der Ostseeküste, auf dem Darß, auf Rügen oder auf Usedom hat sich das pastellfarbene Zuckergebackene in touristisch belebte Jugendstilschönheit verwandelt. Und wie trostlos sah das aus, wie heruntergekommen, wie auf immer verloren, als wir den ersten sozialismusfreien Sommer dort verbrachten und im kleinbürgerlichen, mit Spitzendeckchen verzierten und Kristallgläsern ausgestatteten Scheinluxus eines Hotels, das einst der SED-Prominenz vorbehalten war, Urlaub machten. Jetzt muss man hin. Und die Leute kommen zuhauf. Vor allem aber kommen sie nach Berlin, gerade dorthin, wo die Stadt einmal östlich, tot und trübe war – nach „Mitte“. Ausgerechnet an diesem Ort hat sich die Hauptstadt zu einer Attraktion für Jugend aus aller Welt verwandelt, mit Großkunst, Kleinkunst und Lebenskunst. Nicht zuletzt junge Israelis zieht es hierher. Wer hätte das gedacht?

Wieder ein Volk

Und weil sich nun mehr und mehr doch sehr vieles mischt und der 3. Oktober 1990 fast eine Generation zurückliegt, ist auch von der Mauer in den Köpfen kaum noch die Rede. Was Wunder, zumal doch der liebenswürdige, gescheite und wortgewaltige Herr Gauck, der einst in Rostock gegen das DDR-Unrecht anpredigte, an der Spitze unseres Gemeinwesens steht. Im Kanzleramt regiert Angela, die Eiserne, die Unbewegte, eine Pfarrerstochter aus Ostdeutschland, von der es heißt, sie sei nicht nur die mächtigste Frau in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Da kann nun wirklich niemand mehr behaupten, die Landsleute aus dem einst anderen Deutschland wären in der neuen Zeit unter die Räder gekommen. Gewiss nicht. Trotz aller noch nicht getilgten und vielleicht niemals ganz auszugleichenden Hinterlassenschaften der bleiernen Zeit der DDR, sind wir wieder ein Volk. Kein Grund zum Größenwahn, aber doch einer, um dankbar zu sein.