Zugegeben, sehr diplomatisch mag man Peer Steinbrücks (SPD) jüngste Ausfälle nicht nennen. Aber falsch ist es ja auch nicht. Ganz im Gegenteil. Eine Kolumne von Sibylle Krause-Burger

Stuttgart - Es war mitten in Berlin, im Haus des Lindencorsos, am Vorabend eines SPD-Parteitags, als sich eine Masse aus Medienmenschen, einem Lindwurm gleich, drei Stockwerke hinauf und hinunter über die Galerien hinweg wälzte, die den hohen Innenhof umrankten. Drunten und schön in der Mitte saß Gerhard Schröder, damals noch Kanzler, im Kreis von ein paar Fernsehgrößen und „Spiegel“-Leuten. Wir, die vielen anderen, drängelten uns mal hier, mal da am Geländer und starrten hinab, gierig auf Eindrücke, Nachrichten, Sensationen. Ein metaphorischer Moment. Der Drache braucht Futter.

 

Er frisst und verdaut das tägliche journalistische Schwarzbrot: die parlamentarischen Abläufe, die Siege und Niederlagen der Parteien, das gesprochene und das gebrochene Recht, Gruppen- und Grabenkämpfe, Urteile und Fehlurteile. Nicht zuletzt aber hat er Appetit auf Leute. Denn von allem was so geschieht, ist der Mensch, der es geschehen macht, doch das Interessanteste. Nicht nur für uns Journalisten, auch für die, welche unsere Arbeit konsumieren und goutieren, sei es in der Zeitung oder den elektronischen Medien.

Das Mediengetier droht Steinbrück zu verschlingen

Manchmal haben der Drache und sein Publikum Vergnügen daran, einen Zeitgenossen oder eine Zeitgenossin nach oben zu schubsen, manchmal knabbern sie im Verein diese und jene Prominenz nur ein bisschen an. Immer wieder aber landet eine Berühmtheit, eine politische vorweg, im Bauch des Untiers, wie zu biblischen Zeiten Jonas in dem des Wals. Etliche speit der Lindwurm anschließend wieder aus. Der große Sünder Franz Josef Strauß sah sich derart unversehrt gerettet wieder zurück an der politischen Macht. Christian Wulff aber, ein vergleichsweise harmloser Delinquent, scheint auf immer verschwunden. Auch Norbert Röttgen ward vorerst nicht mehr gesehen. Annette Schavan, nun ohne ihr hohes Amt, ist nur noch eine halbe politische Portion. Es lohnt nicht mehr, sie zu vertilgen. Rainer Brüderle hingegen, gerade noch gefressen, ist schon wieder unter den politisch Lebenden. War wohl doch zäh, der Bissen. Schon aber klappt das Mediengetier sein riesiges Maul erneut auf und droht den Kanzlerkandidaten der SPD zu verschlingen. Schließlich ist der ein Alphatier und also ein besonderer Appetithappen. Dauernd fordert er den Drachen heraus, reizt ihn zum Zupacken. Und, schnapp, beißt der Gefräßige ihn auch hier und da ins Bein.

Warum aber handelt der lecker-lockende Peer so unvernünftig? Es kann doch nicht sein, dass er gefressen werden will? Oder weiß er, dass er ob seines gegenwärtigen politischen Gewichts fürs erste sicher und von seiner Partei geschützt, also unverdaulich ist? Er könne nun mal nicht an sich halten, sagen die einen, andere meinen, er begebe sich aus Lust ins Risiko. Aber gehen wir doch noch einen Schritt weiter: vielleicht fordert er den Drachen sogar mit Kalkül heraus? Das macht doch mehr Sinn, als die Annahme, ein so intelligenter Bursche bringe sich dauernd mehr oder minder gedankenlos und aus Versehen in Gefahr. Nein, er hält sein loses Maul ganz bewusst nicht im Zaum, er kultiviert das Kecke, das Provokante. Das ist sein Alleinstellungsmerkmal. Nur so wird er sichtbar, hebt sich von allen anderen ab, von der unangreifbaren Kanzlerin oder auch dem anderen SPD-Stone, dem allzeit maßvollen, aber vor vier Jahren gescheiterten Frank Walter Steinmeier. Natürlich hat das einen Preis. Der Kandidat Steinbrück wirkt nun zwar vorzeitig angeschlagen. Aber er brilliert eben auch als ein ganzer Kerl. Sein Gewinn heißt öffentliche Aufmerksamkeit. Es ist die Goldmünze unserer Zeit. Nicht zuletzt für Politiker.

Was für eine Heuchelei!

Manchen reißt die Gier danach ins Verderben. Manch anderer aber lebt nicht schlecht davon. Also beleidigt er nicht nur die Schweizer ob ihrer verschwiegenen Steuerpolitik als Indianer, denen die betrogene und redliche Bundesrepublik mit der Kavallerie zu Leib rücken müsste. Auf eine Journalistenanfrage nach den Einkünften der Bundeskanzlerin weiß er auch, dass jeder Sparkassenvorstand mehr verdient als Angela Merkel. Zu guter Letzt bezeichnet er die zwei italienischen Wahlsieger als Clowns – den Berufskomiker Grillo wie die Botoxmaske Berlusconi.

Zugegeben, sehr diplomatisch mag man das alles nicht nennen. Aber falsch ist es ja auch nicht. Ganz im Gegenteil. Das weiß das Publikum, das weiß der Lindwurm, das weiß auch der italienische Staatspräsident, der sich pflichtgemäß über den jüngsten verbalen Coup des SPD-Kandidaten aufregt und ein Treffen mit Steinbrück absagt. Dabei müsste der Italiener dem Deutschen doch dankbar die Hand schütteln, nachdem er, Napolitano, Berlusconi im November 2011 zum Rückzug gedrängt hat. Nun aber ist der unsägliche Sittenverderber schon wieder da, dessen wahres Gesicht nur in seiner Unmoral noch erkennbar ist und der mit den scheußlichsten Verunglimpfungen unserer barmherzigen Bundesrepublik seine Wähler geködert hat. Und da darf man ihn keinen Clown nennen? Was für eine Heuchelei!