Nach den Übergriffen auf junge Frauen wächst bei einigen Stuttgartern die Angst. Manch einer greift zum Pfefferspray oder meidet dunkle Ecken noch bewusster.

Stuttgart - Es ist ein Freitag wie jeder andere in der Klett-Passage am Bahnhof. Menschen strömen vorbei, viele haben den Blick auf den Boden gerichtet, andere sprinten, um ihren Zug noch zu erwischen. Ein Punker schimpft mit seinem Hund, vereinzelt suchen Bettler nach Aufmerksamkeit und Kleingeld. Doch auch wenn sich an dem alltäglichen Bild wenig geändert hat: Manche Stuttgarter bewegen sich an diesem Tag mit gemischten Gefühlen durch die Menge.

 

„Man schaut schon mehr darauf, wo man langläuft. Bei schlechter einsehbaren Ecken bin ich vorsichtiger geworden“, sagt Isabella Leonardi aus Fellbach. Seit sie über die Übergriffe auf junge Frauen in Köln und Stuttgart und die Machtlosigkeit der Polizei gelesen habe, sei ihr Sicherheitsgefühl gesunken. Sie denke verstärkt darüber nach, abends Pfefferspray mitzunehmen, aber bislang habe sie noch Abstand davon gehalten. In düsteren Ecken der Klett-Passage, aber vor allem am Rote-bühlplatz, wünsche sie sich mehr Polizeikräfte, sagt die 43-Jährige. Sie habe auch schon daran gedacht, Menschenansammlungen zu meiden. „Aber das mache ich bewusst nicht. Ich möchte mich in meiner Freiheit nicht beeinflussen lassen.“

Immer ein Pfefferspray dabei

Niko Petliakis hat Angst um seine Freundin, wenn sie abends aus der Innenstadt nach Hause fährt. „Wir haben schon entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen“, sagt der 25-Jährige aus Waiblingen. Seit den Vorfällen in Köln habe seine Freundin immer Pfefferspray dabei. Sie schickt ihm eine Kurznachricht, wenn sie das Geschäft verlässt, und eine zweite, wenn sie in der Bahn sitzt. Und nicht vorher. „Sie läuft durch dunkle Passagen.“ Da erscheine es ihm nicht sinnvoll, dass sie dabei in geduckter Haltung auf ihr Handy schaut. Gegenüber Straftätern fordert er ein härteres Durchgreifen und konsequente Abschiebungen. In Waiblingen fühle er sich sicherer als in Stuttgart. „Weil die Stadt kleiner ist, fühlt man sich größer.“

Wie schwer eine negative Erfahrung nachwirken kann, weiß eine 59-Jährige aus eigener Erfahrung. „Ich war 20 Jahre alt, als mich in den Niederlanden ein Mann vom Fahrrad gestoßen und überfallen hat“, sagt die Frau, die schon seit 32 Jahren in Stuttgart lebt. Mehr erzählt sie dazu nicht, wohl aber, dass sie abends nicht mehr allein durch die Dunkelheit geht. „Das hat jedoch überhaupt nichts mit den Flüchtlingen zu tun.“ Den dunklen Weg vom Theater zum Bahnhof habe sie zum Beispiel schon immer als sehr gefährlich eingeschätzt, sagt sie. Viele Menschen seien dort schon überfallen worden – auch Männer. Und große Menschenmassen seien ebenfalls grundsätzlich schwierig. Sie könne jungen Mädchen nur raten, sich davon fernzuhalten. „Männer sind in der Regel stärker, und die Frauen stehen bei Angriffen unter Schock und können sich kaum wehren.“

Kritik an Sicherheitsleuten der Bahn

Katharina Gercek hat zwar bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber auch sie ist vorsichtiger geworden. In der Klett-Passage machen ihr die Betrunkenen Angst, die sich abends dort häufiger in die Haare geraten. Schon länger meide sie es, durch dunkle Gassen zu gehen, und sei abends nur noch mit Freundinnen unterwegs. „Ich halte mich fern von großen Gruppen, laufe außen herum oder drehe um“, sagt die 23-Jährige. Die Ludwigsburgerin wünscht sich ebenfalls mehr Polizeipräsenz. „Die Sicherheitsleute der Bahn tun gar nichts“, kritisiert sie.

Sehr selbstbewusst ist dagegen eine 62-Jährige aus Degerloch. „Ich habe keine Angst“, sagt sie. Sie denke, dass sie sich schon wehren könne – auch weil sie schon Kampfsport gemacht habe. „Ich hätte so eine gigantische Wut in mir, würde brüllen und ein großes Spektakel machen.“

Obdachlose helfen in der Not

Ursula Lemmes, Mitarbeiterin eines Einzelhandelbetriebs, bewertet die Polizeipräsenz als gut. Wenn die Beamten mal nicht sofort zur Stelle seien, unterstützen sich die Händler auch untereinander, sagt die 52-Jährige. „Hier unten ist es wie in einer großen Familie – man hilft sich gegenseitig.“ Auch Obdachlose würden zu Hilfe eilen, wenn jemand rufe. Die Frau aus Zuffenhausen hat in den vergangenen 30 Jahren schon viel gesehen und merkt, dass Kunden schneller vorbeigehen, wenn sich bei schlechtem Wetter viele Gruppen in der Passage versammeln. Flüchtlinge und Kriminelle dürfe man nicht über einen Kamm scheren. Aber die Politik sollte schauen, Asylbewerber so schnell wie möglich aus den engen Unterkünften rauszuholen. „Wenn Menschen lange so dicht aufeinander hocken, schaukelt es sich schon mal hoch“, so Lemmes,

Dirk Seiler, Geschäftsleiter eines Bioladens, sagt: „Man kann sich in der Klett-Passage sehr sicher bewegen.“ Diverse Gruppen, welche es aber schon seit Jahren gibt, hätten sogar an Stärke abgenommen. Zudem sei es durch die erhöhte Polizeipräsenz nach den Terroranschlägen in Paris noch sicherer geworden.