Sicherheit und Freiheit im Grundgesetz Das vergessene Grundrecht

Gewährleistete Sicherheit als Voraussetzung für Freiheitsrechte? Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Vor 70 Jahren entstand der erste Entwurf für das Grundgesetz. Freiheit war das vordringlichste Motiv seiner Urheber. Inzwischen hat sich die Perspektive gewandelt. In Zeiten allgegenwärtigen Terrors gilt Sicherheit als wichtigstes Staatsziel.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Der berühmteste Satz der deutschen Rechtsgeschichte klingt wie ein umfassendes Versprechen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet er. So beginnt der erste Artikel unseres Grundgesetzes, dessen Urfassung vor 70 Jahren entstand. Die sechs Worte verheißen Freiheit vor staatlichen Übergriffen. Sie bedeuten eine Garantie der Sicherheit vor Entwürdigung, wie sie viele Mütter und Väter dieser Verfassung in den Jahren der Nazidiktatur hautnah erleben mussten, die damals erst für einen Wimpernschlag der Geschichte Vergangenheit war.

 

Ursprünglich hatte der Text des Grundgesetzes ganz anders angefangen. Der binnen 13 Tagen im August 1948 auf der Insel Herrenchiemsee geschaffene Verfassungsentwurf begann so: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, hieß es im ersten Artikel. Darauf erst folgte der Satz von der Würde, die unantastbar sei. Mit jener Formel habe der Verfassungskonvent, der im Alten Schloss der Augustiner-Chorherren tagte, „den Staat vom Sockel geholt und an seiner statt den Menschen draufgestellt“, schreibt Christian Bommarius in seiner bisher einzigartigen Biografie des Grundgesetzes. Artikel 1 wurde später in Bonn noch einmal umgemodelt. Der eine Woche nach Ende des Konvents von Herrenchiemsee installierte Parlamentarische Rat, der für das Grundgesetz in seiner 1949 verkündeten Fassung verantwortlich zeichnete, rückte die Menschenwürde an die erste Stelle.

Recht und Ordnung waren eine fragile Angelegenheit

Das rechtliche Fundament für unsere Republik entstand in ausgesprochen unsicheren Zeiten. „Der dritte Weltkrieg stand an seiner Wiege Pate“, schreibt Bommarius. Berlin war von der Roten Armee abgeriegelt. Die zerbombte Hauptstadt konnte nur dank amerikanischer und britischer „Rosinenbomber“ überleben. Hunderttausende entwurzelter Menschen, Displaced Persons genannt, zogen durch die Ruinen der Städte. Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen suchten nach einem neuen Zuhause. Allein auf dem Terrain, das später Baden-Württemberg werden sollte, waren es 862000 – so viele wie während der „Flüchtlingskrise“ 2015 nach ganz Deutschland kamen. Recht und Ordnung waren eine fragile Angelegenheit. Die Mordrate bewegte sich auf heute unvorstellbarer Höhe. Einige tausend Menschen fielen damals jedes Jahr Gewaltverbrechen zum Opfer (2017 lag die Zahl der Ermordeten bundesweit bei 405). Ungeachtet der Verhältnisse war Sicherheit für die Autoren des Grundgesetzes jedoch nur ein nachrangiges Thema.

Im Stichwortverzeichnis zu den Protokollen des Parlamentarischen Rates kommt der Begriff „Sicherheit“ gar nicht vor. Er spielte in den monatelang andauernden Debatten auch keine größere Rolle. Gestritten wurde über ganz andere Themen: etwa über den von den westlichen Siegermächten diktierten Föderalismus oder über das Wahlrecht. Ein „Quasi-Stürmlein“, so der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, entfachte die Frage, wie weit die Gleichberechtigung von Mann und Frau gehen sollte. Uneins waren sich die Urheber der Verfassung in Sachen Todesstrafe und ganz zuletzt auch dann, als es darum ging, welche Flagge die neue Bundesrepublik bekommen sollte.

Das Grundgesetz wurde zum Drehbuch für einen Staat, der Diener der Freiheit sein sollte

Etwas grundsätzlicher hat der Christdemokrat Konrad Adenauer den verfassungsrechtlichen Dissens formuliert. An die Adresse seines SPD-Kollegen Carlo Schmid, der damals Justizminister des Landes Württemberg-Hohenzollern war, sagte der nachmalige Bundeskanzler: „Was uns beide unterscheidet ist nicht das Alter.“ Schmid war seinerzeit 53, Adenauer schon 72. Es gab noch einen anderen Unterschied, der die Politik prägte: „Sie glauben an den Menschen, ich glaube nicht an den Menschen und habe nie an ihn geglaubt.“

Eine dermaßen skeptische Sicht der Dinge lässt Sensibilität für Anliegen der Sicherheit vermuten. Doch die Erfinder des Grundgesetzes einte ein völlig anderes Grundverständnis: „Höchstwert für uns ist die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit.“ So gab es Adolf Süderstern zu Protokoll, Mitglied einer Partei, die Freiheit heute eher klein, Sicherheit hingegen in fetten Lettern schreibt. Er vertrat die CSU im Parlamentarischen Rat. Das Grundgesetz wurde zum Drehbuch für einen Staat, der in erster Linie Diener der Freiheit sein sollte – einer Freiheit, die mit den Grundrechten nicht allein den deutschen Staatsbürgern versprochen wurde, sondern allen Menschen im Einflussbereich ihrer provisorischen Verfassung.

In der am 23. Mai 1949 proklamierten Fassung des Grundgesetzes kam das Wort Freiheit gleich 36 Mal vor. Von Sicherheit war nur dreimal die Rede (inzwischen taucht dieser Begriff dank nachträglicher Änderungen sechsmal im Verfassungstext auf). Die Grundrechte eröffnen einen ganzen Katalog von Freiheitsversprechen: von der Menschenwürde-Garantie (Artikel 1), die eine freie Entfaltung der Persönlichkeit zusichert, über die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Artikel 4), die Meinungs- und Pressefreiheit (Artikel 5), die Wissenschafts- und Kunstfreiheit, die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Freizügigkeit bei Reisen (Artikel 11) sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13) als privatem Freiraum im Wortsinn. Im Entwurf von Herrenchiemsee stand ursprünglich sogar ein eigenständiger Grundsatz der Freiheit. Da lautete Artikel 2: „Alle Menschen sind frei.“ Diese pathetische Parole hat spätere Korrekturen nicht überlebt.

Das Ideal der wehrhaften Demokratie

Die Verfassung der Weimarer Republik hatte als besonders freiheitlich gegolten. Doch die Grundrechte waren darin nur eine Art Anhängsel. 108 Artikel wurden ihnen vorangestellt. In Herrenchiemsee und Bonn, den Geburtsstätten des Grundgesetzes, wurden die Grundrechte dann vorrangig behandelt. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt dieser Verfassung. Und die Freiheit ist ihre Grundmelodie.

Das Grundgesetz unterscheidet sich von der Weimarer Verfassung auch durch seine Wehrhaftigkeit. Die Parlamentarier, die es vor bald 70 Jahren aus der Taufe hoben, wollten verhindern, dass Feinde der Freiheit jemals wieder die Freiheit gefährden. Deshalb schrieben sie eine Ewigkeitsgarantie in den Verfassungstext: Die Grundrechte sollten unabänderlich sein.

Das Ideal der wehrhaften Demokratie lag auch den in den 1960er Jahren erlassenen Notstandsgesetzen zugrunde: Sie wollten Vorsorge treffen für den Krisenfall und zum Schutz des Grundgesetzes erlauben, die Grundrechte einzuschränken. Dieser Widerspruch traf den Nerv der damaligen Gesellschaft. Er war ein Zündfunke für die Studentenunruhen von 1968.

Ist die Garantie der Sicherheit gar ein vergessenes Grundrecht?

Die Gewalt linksradikaler Attentäter erzwang einen Perspektivwechsel mit Blick auf das Koordinatensystem des Grundgesetzes. Vor dem Hintergrund des RAF-Terrors kam die Frage auf, welches Gewicht der Sicherheit im Kanon der Grundwerte beikommt. Ist die Garantie der Sicherheit gar ein vergessenes Grundrecht? So pointiert formulierte das 1982 erstmals der konservative Verfassungsrechtler Josef Isensee. Auf ihn berief sich später Bundesinnenminister Otto Schily, im früheren Leben Verteidiger von RAF-Terroristen. „Wer meint, ein Grundrecht auf Sicherheit sei die Erfindung konservativer Professoren, der irrt sich“, sagte er in einer Plenardebatte des Deutschen Bundestags am 3. September 1998. Da war die Rasterfahndung schon erprobt und der Große Lauschangriff beschlossene Sache – eine Einschränkung von Freiheitsrechten zugunsten der Sicherheit längst mehrheitsfähig.

Kritikern bescheinigte der streitbare Minister Schily schiere „Unkenntnis der Verfassungs- und Rechtsgeschichte“. Er berief sich auf das Urmodell aller demokratischen Verfassungen, die Virginia Bill of Rights von 1776, in der bereits ein Grundrecht auf Sicherheit vorformuliert war.

Nach den Anschlägen am 11. September 2001 erschien es vollends nostalgisch, die freiheitliche Tradition des Grundgesetzes gegen den Ausbau der Sicherheitsarchitektur verteidigen zu wollen. Für liberale Verfassungsrechtler vollzog sich damit eine „kopernikanische Wende“ (Bommarius).

Sicherheit ist eine elementare Sehnsucht der Menschen

Ein Grundrecht auf Sicherheit stehe „zwar nicht direkt, aber sehr wohl indirekt im Grundgesetz“, sagte Otto Schily in einem Zeitungsinterview in den Tagen nach der Terrorserie 2001. Sein Nachfolger, der CDU-Mann Wolfgang Schäuble, erklärte Sicherheit gar zur „Voraussetzung für Freiheitsrechte“. Es sei gewissermaßen „ursprüngliches Ziel staatlicher Organisation, ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen“. Das bleibt umstritten, lässt sich jedoch durchaus mit aktuellen Lesarten des Grundgesetzes in Einklang bringen. Die Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern sei eine „Urfunktion des Staates“, schreibt etwa der konservative Verfassungsrechtler Bruno Schmidt-Bleibtreu. Sicherheit sei überhaupt der „vornehmste aller Staatszwecke“, heißt es im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, dem traditionsreichsten Handbuch dieser Art.

Sicherheit ist eine elementare Sehnsucht der Menschen. Das war schon so, bevor modernen Staaten erfunden waren. Sicherheit zu schaffen und zu wahren ist schlechterdings die zentrale Legitimationsgrundlage für Staaten. Nach Ansicht des englischen Philosophen Thomas Hobbes war Sicherheit gar der einzige Zweck des Staates. Dessen Herrschaftsgewalt rechtfertige sich nur aus der „Sorge für die Sicherheit des Volkes“. So lassen sich freilich auch Polizeistaaten und Diktaturen legitimieren. Der Aufklärer Immanuel Kant sah das etwas differenzierter. Er hielt Sicherheit lediglich für eine Voraussetzung, um Freiheit zu erreichen. Der Staat steckt nach seiner Deutung in einem Dilemma: Er soll angeborene Freiheitsrechte sichern, ist dabei aber durch eben diese eingeschränkt.

Cybergangster, georgische Einbrecherbanden, islamistische Attentäter

Ohne Sicherheit lassen sich Demokratie, bürgerliche Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleisten. Die Ideale von Sicherheit und Freiheit sind keine Widersprüche, sie bedingen sich wechselseitig – und konkurrieren zugleich miteinander. Das klassische Verständnis der Grundrechte als Schutzschild gegen staatliche Allmacht stößt an seine Grenzen, da doch offenbar nur der Staat die Bürger vor Willkür, Rücksichtslosigkeit, Verbrechen und Terror zu schützen vermag. „Menschliche Freiheit ist nicht nur durch den Staat, sondern auch durch nichtstaatliche Mächte gefährdet, die in der Gegenwart bedrohlicher werden können als die Gefährdungen durch den Staat“, schreibt der Verfassungsrechtler Konrad Hesse.

Anders als zu Thomas Hobbes‘ Zeiten sind nichtstaatliche Mächte, von denen heutzutage Gefahr zu erwarten ist, nicht übermütige Adlige, grobschlächtige Grundherren, beutegierige Piraten oder brandschatzende Landsknechte. Im 21. Jahrhundert sind die Gefahren anonymer, entgrenzter: Sie gehen von Cybergangstern aus, von georgischen Einbrecherbanden, islamistischen Attentätern.

Das Schutzversprechen des Staates ist angesichts solcher Bedrohungen nicht so allumfassend wie die Freiheitsversprechen der Grundrechte. Es wird zum Teil delegiert an überstaatliche Instanzen: an Frontex, Europol oder die Nato. Sicherheit bedeutet nicht mehr als ein vages Minimum an Unsicherheit. Mit der Sicherheit schrumpfen dennoch auch die Freiheitsräume. Was wir an Sicherheit erwarten und an Unsicherheit noch zu ertragen bereit sind, lässt sich nicht auf ewig beantworten. Sicherheit und Freiheit befinden sich bestenfalls in einer Balance, die immer wieder neu austariert werden muss.

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