Der offizielle Unfallbericht zu einem Unglück in Düsseldorf, bei dem im vergangenen Sommer mehrere mit einem gefährlichen Gas beladene Waggons entgleisten, wirft ein düsteres Licht auf den Zustand des deutschen Schienennetzes.

Korrespondenten: Thomas Wüpper (wüp)

Berlin - Am 2. Juli 2013 hätte Düsseldorf zur Feierabendzeit fast eine verheerende Brandkatastrophe erlebt. Um 17.24 Uhr verunglückte im Bahnhof Düsseldorf-Derendorf nahe der Altstadt der Güterzug DGS 95740 – ein 232 Meter langer und mehr als 1000 Tonnen schwerer Gefahrentransport mit zwölf mächtigen Druckgaskesselwagen. Die Ladung: Hunderte Tonnen Propen, ein wichtiger Grundstoff der Chemieindustrie. Das Gas ist bei Luftkontakt leicht entzündlich und deshalb sehr gefährlich. In der spanischen Provinz Tarragona war am 11. Juli 1978 ein überladener Tanklastwagen mit 23 Tonnen Propen verunglückt. Das Gas entwich und löste auf dem benachbarten Campingplatz Los Alfaques ein Feuerinferno mit mehr als 200 Toten und 300 Verletzten aus.

 

In Düsseldorf-Derendorf entgleisten vier Kesselwagen des Zugs, ein Gastank mit Dutzenden Tonnen Inhalt stürzte um. Die Folge: ein Großalarm, wie ihn die Stadt lange nicht erlebt hatte. Wegen akuter Explosionsgefahr mussten Teile des Bahnhofs, das angrenzende Stadtgebiet und die Bahnstrecke nach Duisburg gesperrt werden. Löschzüge, Feuerwehr und Rettungsdienste standen für den schlimmsten Fall bereit.

Düsseldorf kam mit dem Schrecken davon, die Gasbehälter blieben dicht. Mehr als 80 Einsatzkräfte schafften es in der Nacht und am nächsten Tag, die Druckbehälter mit Spezialkränen zu bergen und das Propen umzufüllen. Eine Explosion konnte verhindert werden, es gab allerdings hohen Sachschaden. Die Unfallursache blieb zunächst unklar – und nach der Aufklärung erstaunlicherweise bis heute in der Öffentlichkeit fast unbeachtet.

Der Unfallbericht ist alarmierend

Was die Ermittler des Eisenbahn-Bundesamts (EBA) in Bonn herausgefunden haben, ist alarmierend. Der Unfallbericht der Behörde, die Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) unterstellt ist, wirft ein denkbar schlechtes Licht auf die für das Schienennetz verantwortliche Deutsche Bahn (DB) und deren Kontrolleure. Das Dokument vom 8. April dieses Jahres beweist zweifelsfrei: die Entgleisung des Gefahrentransports wurde durch schwere und sogar mit bloßem Auge erkennbare Mängel an der Gleisanlage verursacht, die längst von der DB hätten erfasst und beseitigt werden müssen. Andere Unfallursachen – wie Mängel am Zug oder Fehler des Lokführers oder Fahrdienstleiters – schließen die Experten aus. Auch die Deutsche Bahn bestätigt auf Nachfrage knapp, dass „eine schlechte Gleislage und Spurerweiterung die Ursache für die Entgleisung waren“.

Schlechte Gleislage? Was recht harmlos klingt, ist in Wahrheit ein Armutszeugnis für den Staatskonzern, der für das Schienennetz verantwortlich ist und dafür jedes Jahr Milliarden an Steuergeldern erhält. Der 21-seitige Untersuchungsbericht der Ermittler beschreibt in technokratischer Behördensprache, dass die Deutsche Bahn ihre Wartungs- und Sorgfaltspflichten über Jahre hinweg vernachlässigt hat. Demnach waren die hölzernen Bahnschwellen bis zu 60 Jahre alt und so verrottet, dass die Gleise darauf nicht mehr richtig befestigt werden konnten. Der Austausch war längst überfällig. Experten empfehlen nach spätestens 35 Jahren den Ersatz der Hölzer.

Das Hauptgleis 12, auf dem der Zug entgleiste, wird dem Bericht zufolge regelmäßig von Güterzügen befahren und war dennoch seit Jahren in beklagenswertem Zustand. Die Fotos der Unfallforscher zeigen an der Entgleisungsstelle lose und fehlende Schwellenschrauben auf den zerbröselnden Hölzern. Auf den morschen Schwellen konnten die Gleisbefestigungen nicht einmal mehr fest verschraubt werden. Das führte dazu, dass sich die Gleise bei seitlicher Belastung verschoben, was letztlich zur Entgleisung der schweren Gaskesselwagen in einem Linksbogen führte.

Der Bericht lässt keinen Zweifel daran, dass die sachgerechte Erneuerung der Fahrbahn längst überfällig war, aber dennoch nicht stattfand. Die Ermittler forderten deshalb bei der DB Netz die letzten drei Inspektionsprotokolle der Jahre 2010 bis 2012 an. Demnach wurden die Gleise 9 bis 16 angeblich regelmäßig kontrolliert, also auch die maroden Stellen auf Gleis 12. Nur: kein einziges Mal seien „die bereits sichtbar vorhandenen Mängel“ vom Inspektionspersonal der Bahn festgestellt oder dokumentiert worden, schreiben die Ermittler. Warum die schon mit bloßem Auge erkennbaren Mängel nicht erfasst wurden, habe aber „nicht abschließend geklärt werden“ können. Auf Seite 14 findet sich gut versteckt jedoch ein entscheidender Hinweis auf die nachlässige Gleisüberwachung durch die DB Netz.

Ausweislich des Protokolls zur letzten Inspektion vor der Beinahekatastrophe, die am 11. September 2012 durchgeführt wurde, veranschlagten die Gleisverantwortlichen nur 127 Minuten für die Untersuchung des Zustands von 5,3 Kilometer Gleisen. Das bedeutet: pro Minute hätten die Inspekteure 42 Meter Gleisanlagen auf ihren Zustand untersuchen müssen – ein Ding der Unmöglichkeit.

Noch ermittelt wegen des Unfalls die Bundespolizei gegen Verantwortliche im Konzern. In der Berliner DB-Zentrale reagiert man auf Anfrage einsilbig und verweist auf das laufende Verfahren. Wie ernst der Fall aber intern genommen wird, zeigt allein die Tatsache, dass die Bahn nach eigener Auskunft inzwischen bundesweite Sonderinspektionen in baugleichen Gleisabschnitten wie in Düsseldorf veranlasst hat. Das erscheint dringend nötig, denn Düsseldorf ist kein Einzelfall. Zwar ist bekannt, das am rund 34 000 Kilometer langen Schienennetz der Zahn der Zeit nagt und viele Gleise, Weichen, Signalanlagen, Tunnel, Brücken und Bahnhöfe nicht mehr in akzeptablem Zustand sind. Die DB, die das bundeseigene Netz betreibt und für Wartungen und Reparaturen verantwortlich ist, muss sich daher immer häufiger Kritik anhören. Doch wie kritisch und riskant die Lage wirklich ist, bleibt bis jetzt der Öffentlichkeit meist verborgen.

Das Bahnnetz ist vielerorts in schlechtem Zustand

Das liegt vor allem daran, dass Politik und Aufseher mit den gefährlichen Versäumnissen des Staatskonzerns offenkundig ebenso nachsichtig wie diskret umgehen. Meist dringt wenig nach draußen. So wurde erst durch einen ARD-Bericht des Stuttgarter Fernsehautors Hermann Abmayr unlängst bekannt, dass die Kontrolleure des EBA allein in den letzten zweieinhalb Jahren mehr als 100 kritische Sicherheitsprobleme rügten und deshalb 81 Verfahren gegen die DB einleiteten.

Konzernchef Rüdiger Grube weist zwar immer und kategorisch alle Vorwürfe zurück, auf Kosten der Sicherheit zu sparen, doch die sieben Aktenordner, die Abmayr vorliegen und umfangreiche Unterlagen zu den EBA-Verfahren enthalten, sprechen eine andere Sprache. Demnach schickte die  Aufsichtsbehörde wegen Mängeln im Schienennetz allein seit 2012 insgesamt 49 amtliche Bescheide an die DB. In allen Fällen sahen die Beamten „eine besondere Eilbedürftigkeit“ und ordneten sofortige Maßnahmen gegen den Konzern an, um „Gefahren für Leib oder Leben“ von Fahrgästen und Personal zu verhindern. Teilweise musste das EBA sogar Zwangsgelder verhängen, damit gravierende Mängel endlich beseitigt wurden. Auch in Düsseldorf untersuchten die Aufseher nach der Beinahekatastrophe den Zustand aller Gleise des Bahnhofs. Dabei seien „in einem Teilbereich“ weitere sicherheitsrelevante Mängel festgestellt worden, räumt ein EBA-Sprecher auf Nachfrage ein. Die verantwortliche DB Netz AG habe aber auch diese Mängel wenige Tage später behoben.

Der Bahn drohen Schadenersatzklagen

Damit ist der Fall für den Staatskonzern noch lange nicht ausgestanden. Auch Schadenersatzklagen drohen. Der Betreiber des in Düsseldorf verunglückten Zugs, die Bahnen der Stadt Monheim GmbH, will die entstandenen Schäden von der DB ersetzt haben und macht dem Konzern schwere Vorwürfe. Für den Aufsichtsratschef des kommunalen Unternehmens, Monheims Bürgermeister Daniel Zimmermann, steht fest: „Die DB Netz hat ihre Aufgaben und die gebotene Sorgfaltspflicht sträflich vernachlässigt.“ Sein Unternehmen treffe keine Schuld. „Wir sind Leidtragende dieses Unglücks.“ Von der Politik erwartet Zimmermann, dass die Verwendung der milliardenschweren Bundeszuschüsse für das Schienennetz besser geregelt werden als bisher: „Es kann doch angesichts des enormen finanziellen Aufwands des Staates für die Bahn nicht wahr sein, dass Lokführer mit mulmigen Gefühl in ihre Züge steigen, weil sie dem Zustand des Gleisnetzes nicht mehr trauen.“

Die gefährlichen Mängel im Gleisnetz könnten die politische Debatte über die Höhe der Milliardenzuschüsse des Bundes an die Bahn für das Netz sowie deren Verwendung und Kontrolle befeuern. „Ein Gefahrgutzug, der wie in Düsseldorf auf morschen Holzschwellen entgleist, ist zwar ein Einzelfall, aber dennoch ein ernst zu nehmendes Alarmsignal“, warnt Dirk Flege, Vorsitzender der Allianz pro Schiene. Er sieht Politik und Konzern in der Pflicht: „Bund und Bahn müssen dringend mehr in den Erhalt der Schienenwege investieren.“ Der Bund habe seit 2006 die Mittel für das bestehende Schienennetz nur um kümmerliche zwei Prozent erhöht, kritisiert der Chef des Berliner Bündnisses, dem Verkehrs- und Umweltverbände, Gewerkschaften und auch die DB selbst angehören.

Die kommunale Bahn der Stadt Monheim wird zum Jahresende ihren Betrieb nach mehr als einem Jahrhundert einstellen. Der Gütertransport schreibe schon seit Jahrzehnten rote Zahlen, erläutert Aufsichtsratschef Zimmermann: „Nach einem weiteren schweren Güterzugunfall vorigen Herbst in Gladbeck haben wir schweren Herzens den Ausstieg aus der Schienensparte beschlossen.“