21.01.2011 - 17:08 Uhr
Polizei soll Michels in Ruhe lassen
Michels hatte gehofft, in einer sozialen Einrichtung arbeiten zu können, doch der Mut der Betreiber war kleiner als die Angst vor Unannehmlichkeiten mit der Kundschaft. Dabei wäre es das Wichtigste, in einer Gemeinschaft zu sein, gebraucht und beachtet, auch geachtet zu werden. "Wie soll ich eigentlich beweisen, dass es mir ernst ist, anständig zu sein?" Der Straßburger Gerichtshof hat Michels jetzt noch einmal Recht gegeben und ihm sogar eine Entschädigung für "erlittenen immateriellen Schaden" zugesprochen.
70.000 Euro, das klingt nach viel, schnurrt aber schnell zusammen, wenn man es auf elf Jahre unrechtmäßige Strafverlängerung umrechnet: Viertausend Tage à 17,50 Euro. Und ein großer Batzen wird für Anwaltskosten drauf gehen. Was soll denn nun werden? Michels hebt die Schultern. Die Polizei soll ihn in Ruhe lassen. Er will ganz normal mit Leuten reden können, er traut sich zu, mit Hilfe seiner Betreuer aus der Bewährungshilfe ein einigermaßen normales Leben zu führen, er will nicht wieder in den Knast und will sich entsprechend verhalten. Er will, dass man ihm eine Chance gibt. Stattdessen sieht er sich wie unter einem Vergrößerungsglas, wo jede Regung beobachtet und im Zweifel gegen ihn ausgelegt wird.
Michels lebt im Ausnahmezustand
"Die permanente Polizeiüberwachung ist antitherapeutisch", sagt Peter Asprion, sie schade weit mehr, als sie nutze. Der Freiburger Sozialarbeiter, Mediator und Supervisor ist Bewährungshelfer von Michels und drei weiteren ehemaligen "SVlern". Asprion ist seit fünfzehn Jahren in der Bewährungshilfe, die jetzt von der Neustart gGmbH getragen wird. Es gibt weit und breit keinen erfahreneren Experten für die Wiedereingliederung von Straftätern.
Seit dem vergangenen Herbst lebt der 56-Jährige im Ausnahmezustand, er muss die Spannung aushalten, den entlassenen Männern helfen zu wollen und zu erleben, wie die kleinen Schritte durch den Überwachungsdruck gefährdet werden. Und durch sensationsgeile Blätter und quotenschindende Privatsender, die ihre Mitarbeiter ungeniert sogar in die Notunterkünfte eindringen lassen.
"Wir haben einen Höchststand an Hysterisierung – bei einem Tiefstand an Bedrohung durch Gewalttaten", sagt der Bewährungshelfer Asprion zornig. Er kennt die Statistiken auswendig: 52 Sexualmorde gab es 1975, nur 26 im Jahre 2004. Empirisch ist die Ausweitung der Sicherungsverwahrung nicht zu begründen, rechtlich schon gar nicht: "Vom Rückwirkungsverbot habe ich schon als Schüler gehört", sagt Asprion, also vom Verfassungsgrundsatz, der eine rückwirkende Strafbegründung oder eine Strafverschärfung für unzulässig erklärt.
Wie soll so ein Leben in Freiheit entstehen?
Für niemanden darf da eine Ausnahme gemacht werden, betont Rechtsanwalt Jens Janssen, auch nicht für eine Tätergruppe, die wie kaum eine andere geeignet ist, mit ihr Schindluder zu treiben: Vergewaltigern wird notorisch unterstellt, sie würden es wieder tun. "Das Gegenteil ist der Fall", betont der Freiburger Strafverteidiger, "das sind die Täter, die statistisch gesehen am wenigsten rückfällig werden."
Kriminologen haben das erforscht und bewiesen, in die breite Öffentlichkeit ist es nicht gedrungen, die lässt sich von Ressentiments leicht ängstigen. Wo entlassene "SVler" eine Wohnung nehmen wollen, können rasch mal anonyme Schmierzettel auftauchen, auch in einem Freiburger Stadtteil ist das passiert. Man wundert sich, wie und wie schnell eigentlich vertrauliche Informationen in unbefugte Ohren und Hände gelangen.
Wie soll so ein Leben in Freiheit entstehen? Martin Michels will es, sein Bewährungshelfer sieht ihn auf dem richtigen Weg und traut ihm zu, dass er es schafft. Über allem schwebt das geplante Therapieunterbringungsgesetz wie ein Damoklesschwert. "Ich will nicht mehr rein", sagt Michels, "ich bin doch nicht geistesgestört." Demnächst wird wieder über die Polizeiüberwachung entschieden, und am 8. Februar wird das Bundesverfassungsgericht das Thema Sicherungsverwahrung verhandeln.