Mit fünf Polizisten ständig im Schlepptau versucht ein Mann den Neuanfang. Doch sein Anhang macht ihm das nicht gerade leicht.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)
Freiburg - Ein Quadratmeter – das ist der Unterschied, der Freiheit bedeutet. Seine Zelle maß neun, sein Zimmer jetzt ist zehn Quadratmeter groß. Das ist die Freiheit nach 25 Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung. Martin Michels (Name geändert) ist 51 Jahre alt, die Hälfte seines bisherigen Lebens war er eingesperrt, im September 2010 kam er plötzlich frei.

Er ist einer von den "SVlern", einer von den Männern, die im Licht der Öffentlichkeit stehen, seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über sie geurteilt hat. "Sie sind doch der, der in Straßburg geklagt hat?" fragt der Mann im Kiosk, wo Michels eine neue Handy-Karte holt. "Jaja" brummelt der. Ist ja auch wirklich kein Kunststück, darauf zu kommen.

Spazierengehen durch die Stadt sieht für Michels so aus: Ein korpulenter älterer Mann in ausgebeulter Windjacke, mausgraues kurzes Haar, den Kopf gesenkt, Hände auf dem Rücken verschränkt, tappt traurig durch die Stadt. Mit dabei ein Gefolge: Vier kräftige Männer, einer direkt neben ihm, drei in einigem Abstand. Manchmal ist auch eine Frau dabei. Und irgendwo fährt noch jemand mit dem Auto hinterher. Das ist die Polizeieskorte, die angeordnet wurde, weil Michels einer von denen ist, die angeblich noch gefährlich sind. Sie wurden für schwere Straftaten verurteilt und danach in Sicherungsverwahrung genommen.

Die Tat kann und will Michels nicht beschönigen


Freilassen musste man die paar Männer, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention kassierte. Aber frei herumlaufen lassen wollen die Politik und die Polizei sie nicht, weil sie pauschal für gefährlich erklärt wurden. "Die Gefährlichkeit", seufzt Michels, "ja, das ist die entscheidende Frage." Er schüttelt den Kopf. Nein, er schätzt sich selber nicht als gefährlich ein, er pocht auf Gutachter, die ihm das bestätigt haben. Er ist belesen und hat jede Menge Argumente parat, er weiß, dass menschliches Verhalten nicht zuverlässig vorhergesagt werden kann. Sonst gäbe es keine Amokläufe mehr.

Was Michels getan hat, kann und will er nicht rechtfertigen und beschönigen. Für zwei Vergewaltigungen im Jahre 1984 ist er zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Es waren Wiederholungstaten, deshalb die anschließende Sicherungsverwahrung, die zunächst auf zehn Jahre beschränkt war. Diese bis dahin geltende Höchstgrenze wurde kurz vor Ende der Regierung Kohl 1998 aufgehoben, kurz bevor Michels freigekommen wäre.

Oft hat Michels Reue bekundet. Er habe versucht, sich bei einem seiner Opfer zu entschuldigen, das wollte davon aber nichts wissen. Er hat Therapien gemacht, macht auch jetzt wieder eine. Aber wie konnte er unter Haftbedingen und wie kann er unter dem Druck der anhaltenden Unfreiheit unter permanenter Polizeiaufsicht zu einer wirklich freien Vergangenheitsaufarbeitung kommen?

Bewachung ist kostspielig und nicht hilfreich


"Sie sollen mich in Ruhe lassen", seufzt Michels und piekst in die Pommes. Selbst in die Nische der Schnitzelwirtschaft äugt alle paar Minuten einer der Polizisten hinein. "Die meisten sind ganz in Ordnung", sagt Michels und winkt ab. Er sagt ihnen, was er vorhat, damit sie ihre Rechnung bezahlen und mit ihm aufbrechen können.

Zufrieden wirken die Beamten nicht, sie langweilen sich, wären gerne in ihren Heimatrevieren im Wiesental, im Schwarzwald, am Kaiserstuhl. Jetzt sind sie seit Wochen abkommandiert und, naja, lungern Tag und Nacht hauptsächlich rum. Michels ist keiner, der wegrennt. "Manche sind ein wenig kurzsichtig", witzelt er, wenn sie ihm buchstäblich zu nahe kommen. Und sie sind immer da. Auch nachts wachen zwei Polizisten in dem Zimmer gegenüber seiner Unterkunft in einem Notquartier der Stadt Freiburg.

Im Hof dösen noch zusätzlich drei Beamte im Auto. Die Bewachung ist stupide, kostspielig und alles andere als hilfreich für die Überwachten. Nicht nur, dass Martin Michels überall auffällt, und jeder Zeitungsleser, der auf fünf zählen kann, ahnt, wer da unterwegs ist. Die gar nicht unauffälligen Schattenmänner verhindern durch ihre Präsenz auch mal ein Zufallsgespräch. Oder die Suche nach einer anderen, größeren Unterkunft. An eine geregelte Arbeit oder Beschäftigung ist schon gar nicht zu denken, denn welcher Arbeitgeber nimmt eine Fünfer-Eskorte in Kauf?