Mit einem innovativen elektronischen Lotsen könnte die S-Bahn wieder pünktlicher fahren. Ein Verkehrswissenschaftler der Uni Stuttgart fordert eine Versuchstrecke, um das Electronic-Train-Control-System (ETCS) in der Praxis zu testen.

Stuttgart - Im Blick auf das seit Jahren schwächelnde Rückgrat des Nahverkehrs in der Region sieht Professor Ullrich Martin vom Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen der Universität Stuttgart akuten Handlungsbedarf. „Es ist höchste Zeit, das European-Train-Control-System (ETCS) auf einer S-Bahn-Strecke zu testen“, rät der Fachmann. Dafür sei etwa die Trasse der S 60 zwischen Böblingen und Renningen gut geeignet. Es genüge aber auch ein kleinerer Testparcours – etwa zwischen den Haltestellen Österfeld und Vaihingen.

 

Das Eisenbahninstitut der Universität hatte bereits Anfang 2015 in einer Studie für den Bahntechnik-Konzern Thales aufgezeigt, dass mit der elektronischen Zugsteuerung ETCS die Verspätungen im unterirdischen S-Bahn-Nadelöhr zwischen den Haltestellen Schwabstraße und Hauptbahnhof um bis zu 70 Prozent abgebaut werden könnten. „ETCS ist aber kein Allheilmittel“, schränkt Martin ein. Alle Probleme der S-Bahn – zu denen unter anderem veraltete Stellwerke und brüchige Kabel gehörten – seien damit nicht zu lösen.

Leistungsfähigkeit könnte gesteigert werden

Bei ETCS handelt es sich um einen im europäischen Eisenbahnverkehr als neuer Standard eingeführtes Zugbeeinflussungssystem. Durch die Ausrüstung der Stuttgarter Stammstrecke unter der Innenstadt und der S-Bahnen mit dem auf drahtloser Übertragungstechnik basierenden Lotsen könne die Leistungsfähigkeit der zweigleisigen Strecke erheblich gesteigert werden, betont der Experte. In der Hauptverkehrszeit passieren alle sechs S-Bahn-Linien die Strecke im Abstand von zweieinhalb Minuten. Dank einer dynamischen Steuerung würde der Abstand zwischen den einzelnen S-Bahnen statt heute 500 nur noch 50 bis 100 Meter betragen, weil das ETCS-System alle Züge kontinuierlich überwache und deren Abstand und Geschwindigkeit optimal anpasse. „Dadurch ist eine dichtere Zugfolge auf der Stammstrecke möglich“, so Martin. Wenn eine S-Bahn die Haltestelle verlasse, könne der nächste Zug sofort nachrücken.

Martin rechnet mit Kosten von rund 80 Millionen Euro für die ETCS-Ausrüstung der rund drei Kilometer langen Stammstrecke und der Bahnen. Das Gros der neuen Technik sei in den Führerständen zu installieren. Das sei bei den neuen Bahnen vom Typ ET 430 recht einfach zu bewerkstelligen, beim älteren Typ ET 423 sei etwas mehr Aufwand nötig.

Alte Technik erneuern wäre sehr aufwendig

Auf Signalmasten und Kabel an der Strecke könne man bei dem Lotsen verzichten. „Dank der drahtlosen Übertragung der Informationen ist ETCS schneller einzubauen, als die für die im Rahmen von Stuttgart 21 vorgesehene Modernisierung der Stammstrecke mit konventioneller Technik“, so Martin. Falls die Bahn AG sich für letztere entscheide, so stünde ein größerer Umbau bevor. Zunächst müssten die alten Signale an neue Kabel angeschlossen werden. Im zweiten Schritt seien neue Signale aufzubauen und zu verkabeln. „Und danach müssen die alten Signale und deren neue Kabel abgebaut werden.“

Dieses Szenario ist für Martin ein nicht vertretbarer Aufwand und ein technischer Rückschritt. „Eine Erneuerung der konventionellen Signaltechnik wäre teurer als ETCS und würde länger dauern“, betont der Wissenschaftler. Außerdem sei man weitere 40 Jahre an ein altes System gebunden. Auch bahnintern stünden die Signale auf Vorfahrt für ETCS. Dieses komme aber wohl in der geplanten Ausschreibung für die Stammstrecke neben konventioneller Technik nur als mögliche Option vor.

Das System hat im Nahverkehr noch keine Zulassung

„Wir simulieren den Einsatz von ETCS auf der Stuttgarter S-Bahn-Stammstrecke“, erklärte ein Bahnsprecher auf Anfrage. Dabei werde ausführlich geprüft, welchen Nutzen dieses System für den Betrieb der S-Bahn habe. Die Simulation werde nach der Sommerpause dem Verband Region Stuttgart (VRS) vorgestellt.

„Wir erwarten im Herbst entsprechende Informationen“, bestätigt VRS-Verkehrsdirektor Jürgen Wurmthaler. Danach rechne er mit einer regen Diskussion. Schließlich werde ETCS von der Bahn in Deutschland noch nicht im Nahverkehr eingesetzt, das System habe noch keine Zulassung.

Der Bahntechnik-Hersteller Thales aus Ditzingen möchte dieser den Weg ebnen: „Grundsätzlich stehen wir einer Teststrecke zur Erprobung von ETCS im Nahverkehr positiv gegenüber, insbesondere wenn diese direkt vor unserer Haustür liegt“, heißt es auf Anfrage.