„Der Freund“ von dem die amerikanische Autorin Sigrid Nunez in ihrem gleichnamigen Roman erzählt, ist alt, er leidet und passt nicht in seine Umgebung – und doch will man ihn auf keinen Fall missen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Gut, wenn man jemand hat, mit dem man sich versteht, auch ohne Worte, der die gleichen Bücher mag wie man selbst und in traurigen Tagen Trost spendet. Aber wie schlimm ist es, so jemand zu verlieren. Der Erzählerin in Sigrid Nunez’ Roman „Der Freund“ ist genau das passiert: Der, auf den man den Titel beziehen könnte, hat sich das Leben genommen. Er war wie sie Schriftsteller, charismatisch, erfolgreich. Dass Schreiben kein Beruf, sondern eine Berufung zum Unglücklichsein sei, kompensierte er als Lehrender an einschlägigen amerikanischen Literaturinstituten mit einem vitalen Triebleben, das ihn zusehends in Gegensatz zum sittlichen Empfinden einer Zeit setzt, in der Studentinnen nicht mehr mit „meine Liebe“ angesprochen werden wollen.

 

Auch wenn er nicht der deprimierteste Mensch war, den die Erzählerin kannte, setzte ihm die allgemeine Entwicklung zu: Die Unfähigkeit seiner Schüler, einen guten von einem schlechten Satz zu unterscheiden, der Niedergang der Literatur, dass man pädagogischen Eros heute sexuelle Belästigung nennt, und die bedenkliche Veränderung des eigenen Spiegelbildes. Das Alter empfand er als Kastration in Zeitlupe. Kurz ein Saurier oder wie man die Spezies heute nennt: ein alter weißer Mann, der drei Ehefrauen, unzählige Geliebte, eine Freundin – und eine riesige dänische Dogge hinterlässt.

Und damit wäre man bei dem zweiten Kandidaten für die Rolle des Titelhelden angekommen, eben jenem nun gleich mehrfach herrenlosen großen Hund, den der Verstorbene einmal beim Joggen aufgegabelt hat. Wie sein einstiger Besitzer ist er nicht mehr der Jüngste, leidet unter Arthritis. Und wie diejenige, die sich nun um ihn kümmern soll, obwohl sie eigentlich mehr zu Katzen tendiert, vermisst er den Toten. Aber wie passen achtzig tierische Kilo, aufgerichtet über zwei Meter groß, in ein New Yorker 45-Quadratmeter-Appartement, in dem es zudem strikt verboten ist, Hunde zu halten?

Die Beziehung endet rasch im Bett

Aus der anfänglichen Furcht, ihr neuer Gefährte könne sich dazu entschließen, sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie zu legen, wie das Kamel einer kürzlich im Radio gehörten Meldung, das seinen Besitzer gebissen und getreten und sich auf ihn gesetzt hat, bis er tot war, erwächst ein inniges Verhältnis, das schon rasch im Bett endet: „Liegst du im Bett voller nächtlicher Gedanken, zum Beispiel, warum musste dein Freund sterben, und wie lange wird es noch dauern, bis du das Dach über deinem Kopf verlierst, ist es ein erstaunlicher Trost, wenn sich ein großer warmer Körper an dein Rückgrat drückt.“

Der neue Freund, der auf den Namen Apollo hört, teilt den Büchergeschmack seiner neuen Besitzerin, zumindest verschlingt er begeistert ihre Knausgard-Ausgabe. Sigrid Nunez’ Roman könnte man der Gattung des Memoirs zurechnen. Wie ihr verstorbener Freund gibt die Erzählerin an der Universität Creative-Writing- Kurse. Aber dieses in den USA mit dem National Book Award ausgezeichnete Werk ist weitaus vielschichtiger als eine rührende autobiografische Schnurre über den besten Freund des Menschen, der einer vereinsamten Trauernden aus einer Lebenskrise hilft.

Der Gott Apollon ist in der griechischen Mythologie nicht nur für die Heilkunst zuständig, sondern auch für die Dichtung. Und so handelt dieses Buch eben auch vom Schreiben, von der Kraft des Erzählens, vom gedichteten Leben und von den kleinen Tragödien und Komödien auf der Bühne des Literaturbetriebs. Welchen Bedeutungsverlust hat die Literatur erlitten, seit Abraham Lincoln 1862 die Autorin von „Onkel Toms Hütte“, Harriet Beecher Stowe, mit den Worten ansprach: „Sie sind also die kleine Frau, die das Buch geschrieben hat, das zu diesem großen Krieg geführt hat.“

Melancholischer Witz

Durch die Erzählung zieht sich eine Fülle von Geschichten, Anekdoten und Referenzen, die auf raffinierte Weise die Ereignisse spiegeln und konterkarieren. Der rüdenhaften Kreativitätsmystifikation des Verstorbenen antwortet seine Freundin mit einem Buchprojekt über Zwangsprostitution. Immer wieder hellt der melancholische Witz der Erzählerin die Stimmung auf. An einem schönen Frühlingsmorgen spaziert Samuel Beckett durch ihre Erinnerung: Ob man sich an so einem Tag nicht freue, am Leben zu sein? So weit würde ich nicht gehen, lautet Becketts Antwort. Je mehr man sich in dieses Gespinst aus Lebenserfahrung und Belesenheit verstricken lässt, desto klarer wird eine dritte Anwärterschaft für das mit dem Titel Gemeinte: das Buch als solches, dessen Zuspruch und Rat in die düstersten Abgründe des Lebens hineinleuchtet.

Sigrid Nunez’ Roman überblendet die verschiedenen Facetten der Freundschaft – Mann, Hund, Literatur. Im Glanz der traurigen Augen einer zärtlichen Dogge erscheint die Kreatürlichkeit eines alternden Lüstlings in anderem Licht als in fälligen Debatten. Genau trifft die Übersetzung von Anette Gruber den zwanglosen Plauderton, hinter dem die Autorin die kunstvolle Komposition ihrer literarischen Trauerarbeit verbirgt, die am Ende den Tod überwindet, wie es nur ein großer Roman vermag.

Mit dem „Freund“ hat sich die 69-jährige Tochter einer deutschen Mutter und eines chinesisch-panamaischen Vaters in die erste Riege der amerikanischen Gegenwartsliteratur geschrieben. Gut wenn man jemand hat wie diese Autorin, um an ihrer Seite einige Zeit verbringen zu dürfen.

Sigrid Nunez: Der Freund. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Anette Gruber. Aufbau-Verlag. 235 Seiten, 20 Euro.