Wieso blieben die Angriffe von Köln tagelang nahezu unbeachtet? Bei der Aufarbeitung des Skandals werden auch die Medien dafür kritisiert, dass sie zu spät berichtet hätten und Tatsachen verschwiegen.
Stuttgart - Wie kann es sein, dass in der Silvesternacht mindestens 1000 Männer über Stunden vor dem Kölner Hauptbahnhof Krawall machen und aus dieser Gruppe heraus mehr als 120 Frauen angegriffen werden – und die Republik nimmt erst mit Verzögerung Notiz von diesem ungeheuerlichen Fall? Nach den Vorfällen von Köln fragen sich das viele Menschen – auch Journalisten. Zugleich werden gefährliche Vorwürfe erhoben. Der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) spricht von einem „Schweigekartell“, begründet seine Anschuldigung jedoch in keiner Weise. Sie sind auch leicht widerlegbar.
Die erste, heute schwer zu verstehende Antwort auf die Frage nach den Abläufen liefert die Presseerklärung zur Silvesterbilanz, welche die Kölner Polizei am Neujahrsmorgen um kurz vor neun Uhr morgens veröffentlichte: „Wie im Vorjahr verliefen die meisten Silvesterfeierlichkeiten auf den Rheinbrücken, in der Kölner Innenstadt und in Leverkusen friedlich.“ Und: „Kurz vor Mitternacht musste der Bahnhofsvorplatz im Bereich des Treppenaufgangs zum Dom durch Uniformierte geräumt werden. Um eine Massenpanik durch Zünden von pyrotechnischer Munition bei den circa 1000 Feiernden zu verhindern, begannen die Beamten kurzfristig die Platzfläche zu räumen. Trotz der ungeplanten Feierpause gestaltete sich die Einsatzlage entspannt – auch weil die Polizei sich an neuralgischen Orten gut aufgestellt und präsent zeigte.“ Inzwischen hat der Polizeipräsident Wolfgang Albers klargestellt, die Pressemitteilung sei „inhaltlich nicht korrekt“. Die Meldung erklärt aber zunächst, weshalb am 1. Januar zunächst nicht berichtet wurde. Es lagen keine Informationen vor.
Das änderte sich im Lauf des Tages: der „Kölner Stadtanzeiger“ berichtete online, im Bahnhof seien mehrere Frauen von Unbekannten belästigt worden. Quelle war ein Opfer, das sich an die Zeitung wandte. Die Zeitung ließ sich den Fall von der Polizei bestätigen – und bekam dort offensichtlich keine weitergehenden Informationen. So heißt es in der Meldung, das Opfer habe berichtet, von fünf Männern eingekreist und begrapscht worden zu sein. Die Polizisten am Bahnhof hätten die Situation heruntergespielt, so die 22-Jährige: „Die Polizisten haben gesagt, da könne man nichts machen und man solle auf seine Sachen aufpassen.“ Die Polizei dagegen wird mit dem Satz zitiert, als die Beamten eingetroffen seien, habe sich die Situation bereits aufgelöst gehabt. Später berichteten auch andere Lokalzeitungen, die „Kölnische Rundschau“ und der „Express“.
Auch in den sozialen Netzwerken wurde die Dimension der Ereignisse nicht klar
Die Meldungen blieben zunächst lokal. Andere Themen waren wichtiger, da die Dimension des Ereignisses nicht klar war – übrigens auch nicht in den sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook, in denen Ereignisse durch Schilderung von Betroffenen mitunter schneller bekannt werden als in überregionalen Medien. Hier lagen die Prioritäten am 1. Januar woanders – einer der meistgenutzten Hashtags auf Twitter lautete nach der Terrorwarnung der Nacht #Muenchen. Als am 2. Januar 30 Strafanzeigen eingingen, meldete die Polizei, sie habe eine eigene Ermittlungsgruppe gegründet: „Die Geschädigten befanden sich während der Neujahrsfeier rund um den Dom und auf dem Bahnhofsvorplatz, als mehrere Männer sie umzingelten. Die Größe der Tätergruppen variierte von zwei bis drei, nach Zeugenaussagen nordafrikanisch Aussehenden bis zu 20 Personen. Die Verdächtigen versuchten durch gezieltes Anfassen der Frauen von der eigentlichen Tat abzulenken – dem Diebstahl von Wertgegenständen. Insbesondere Geldbörsen und Mobiltelefone wurden entwendet. In einigen Fällen gingen die Männer jedoch weiter und berührten die meist von auswärts kommenden Frauen unsittlich.“
Dies berichtete dann erstmals die Deutsche Presseagentur – in einer knappen Meldung, die das nordafrikanische Aussehen der Täter getreu dem Pressekodex zunächst nicht erwähnte, weil aus der Polizeimeldung nicht ersichtlich wurde, inwieweit die Ethnie in einem Zusammenhang mit der Tat steht. Diese kurze Nachricht landete nun in den Redaktionen vieler überregionaler Tageszeitungen – als eine von hunderten kleinen Kriminalitätsmeldungen. Sie stand am Abend auf den Webseiten einiger Zeitungen – ohne Konsequenzen. Auch in sozialen Netzwerken war Köln immer noch kein Thema – genauso wenig übrigens wie in den rechten so genannten Alternativmedien, die reguläre Tageszeitungen und öffentlich-rechtliche Sender gern als Lügenpresse bezeichnen. Die Website PI-News zum Beispiel berichtete klein und wortgleich den Text aus der „Kölnischen Rundschau“.
Die Desinformationspolitik der Polizei wurde auch vom Journalisten-Verband kritisiert
Der Ablauf bis hierhin widerlegt die Behauptungen von Verschwörungstheoretikern, wonach es Medienzensur gebe. Es wurde ja berichtet. Deutlich wird, dass die Polizei zunächst kontrafaktisch und dann unvollständig informierte. Dies blieb offensichtlich über Tage so, wie auch die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) am Freitag kritisierte. Ihr Sprecher sagte, die Politikerin habe auch nach Tagen einen anderen Informationsstand gehabt als er bei der Polizei vorhanden gewesen sei. „Es könnte da politische oder auch taktische Motive geben“. Auch der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) kritisierte am Freitag die Desinformationspolitik der Polizei. „Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht auf umfassende Information“, sagte der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall in Berlin. Die Antwort auf die Frage nach dem Warum ist die Polizei bis heute schuldig.
Auch am 3. Januar berichtete die dpa nur in einer knappen Meldung von mehreren Festnahmen. „Im Getümmel rund um den Dom und am Bahnhof sollen sie Frauen zur Ablenkung umzingelt und angefasst haben. In einigen Fällen wurden die Frauen nach Polizeiangaben auch unsittlich berührt.“ Diese Informationen ließen die Dimensionen weiterhin unklar. Die lokalen Berichte führten nicht dazu, dass Journalisten in den während der Feiertage dünn besetzten Redaktionen aufmerksam geworden wären. Überregionale Medien – auch die Stuttgarter Zeitung – reagierten erst einen Tag später. „Das spricht eher für Phlegma, wenn es um regional verankerte Themen in Deutschland geht“, sagte Peter Pauls, der Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeigers“ dazu der Zeitung „Die Welt“.
Die Rolle der Medien: sie erhellen die Abläufe und kommentieren
Es spricht auch für ein starkes Hängen an offiziellen Quellen, und ein großes Vertrauen in die Polizei – wie sich herausstellt, zu groß. Berichte von Opfern waren zu diesem Zeitpunkt in den lokalen Medien zugänglich und eindrucksvoll. Aber es führte nicht dazu, dass diese Berichte in anderen Redaktionen gecheckt, dass die Polizei massiv mit ihnen konfrontiert worden wäre. Erst seit der offiziellen Pressekonferenz des Polizeipräsidenten und der Oberbürgermeisterin am 4. Januar wurde sehr breit berichtet. Eine Ausnahme machte hier das ZDF mit seiner „Heute“-Sendung, die nicht einstieg. Für diesen Fehler entschuldigte sich tags drauf der Chefredakteur bei den Zuschauern.
Seitdem erhellen die Medien die Abläufe, sie befragen Zeugen und Opfer, berichten über Informationen aus Polizeikreisen, bilden die politische Debatte ab, sie kommentieren, und reflektieren. Das ist ihre Rolle.