Hartmut Zweigle verlässt nach 19 Jahren die evangelische Betriebsseelsorge und wird Pfarrer. Die Arbeitskämpfe haben ihm die Zuversicht nicht genommen.

Sindelfingen - Als sein katholischer Kollege Paul Schobel sich im Jahr 1973 nach mehreren Wochen Arbeit am Fließband von den Kollegen verabschieden wollte, hat ein Meister zu ihm gesagt: „Komm bleib hier und schaff mit uns, statt jetzt wieder von der Kanzel herab die Leute anzulügen.“ Dieses Zitat ist nicht nur Paul Schobel in Erinnerung geblieben. Es hat auch Hartmut Zweigle so beeindruckt, dass er es zum Titel eines Buches über den Kollegen machte. Nicht, weil er den Sarkasmus teilt, der darin zum Ausdruck kommt. Sondern weil er darin eine große Sehnsucht nach Kirche im Alltag ausgedrückt findet. Eine Sehnsucht, die der gebürtige Esslinger seit seinem Theologiestudium teilt. Frühmorgens malochte er am Tübinger Güterbahnhof, anschließend ging er zur Uni. Was er dort hörte, hat er – verschwitzt wie er war – stets am Alltag der Arbeitenden gemessen. Nun verlässt der Schaffer nach 19 Jahren die evangelische Betriebsseelsorge und geht trotzdem zurück auf die Kanzel.

 

Er hat viel Not gesehen

Zweigle ist einer, der die Ärmel hochzukrempeln weiß, der mit beiden Beinen fest in der Arbeitswelt verankert ist. In der künftigen Gemeinde werden ihm die Erfahrungen aus der Betriebsseelsorge von Nutzen sein: Feuerbach ist wie wenig andere Gemeinden von der Industrie geprägt, die Kirche trägt den Namen des Pfarrers und Unternehmers Gustav Werner, über den Zweigle ein Buch geschrieben hat.

Fast zwei Jahrzehnte begleitete Hartmut Zweigle als einziger evangelischer Betriebsseelsorger Insolvenzen, Betriebsschließungen, Arbeitskämpfe. Und obwohl der Kreis Böblingen lange Zeit mit der bundesweit geringsten Arbeitslosenquote glänzte, hat Zweigle hier viel Not gesehen. „Der beste Sozialplan kann einen Arbeitsplatz nicht ersetzen“, sagt Zweigle. Das gelte erst recht angesichts von Hartz IV.

Bei NXP sagten sie „unser Pfarrer“

Was es bedeutet, wenn ein Familienvater ein Haus abzahlen muss und plötzlich mit Mitte Fünfzig den Job verliert, hat er immer wieder gesehen – etwa als er mit Paul Schobel die Schließung des Leiterplattenherstellers STP im Jahr 2003 begleitete. Oder vier Jahre später, als die Halbleiterproduktion von NXP schloss. Am Anfang stehe der Schock, dann folge die Auflehnung – und am Ende bleibe manchmal nur, bittere Tatsachen zu akzeptieren. Bei NXP hatte er im letzten halben Jahr ein eigenes Büro in der Firma. Die Beschäftigten sprachen von „ihrem“ Seelsorger. Das hat ihm gut getan. Der Arbeitskampf dort ist von einem seltenen Happy End gekrönt gewesen: die Beschäftigten erstritten einen komfortablen Tarifsozialplan, indem sie die Maschinen drosselten, bis die Gegner kapitulierten.

Angesichts der heutigen Angst vor einem sozialen Abstieg durch Hartz IV erscheint das mutig. „Die Angst, nach unten durchgereicht zu werden, ist inzwischen viel größer geworden“, sagt Zweigle, der Vater von drei Kindern ist. „Diese Ängste verändern auch die Beschäftigten – man ist zu ganz anderen Konzessionen bereit.“ In diesem Licht sieht er auch die zunehmende Armut durch Arbeit. Er habe viele Demütigungen gesehen, sagt er. „Ich bewundere Menschen, die ihren Mut trotz dieser Demütigungen im Job nicht verlieren.“

Seit Jahren tritt Zweigle deshalb für einen Mindestlohn ein. Und er ist froh, dass Politiker offenbar umdenken. Ein Treffen mit der Kanzlerin Angela Merkel hat ihn in diesem Glauben bestärkt, ebenso wie der Koalitionsvertrag. Auch sonst blickt er mit Zuversicht in die Zukunft – nicht nur, weil sein eigener Versuch, mit 51 Jahren noch einmal etwas Neues zu wagen, gelungen ist. Sondern auch, weil er ein Umdenken auf allen Ebenen spürt: „Die Zeiten eines reinen Neoliberalismus sind vorbei.“ Stattdessen werde wieder nach Werten gefragt, nach einer neuen Wirtschaftsethik sogar. Das nimmt der Schaffer Zweigle als ein gutes Zeichen.