Die Wahlbeteiligung in Stuttgart sinkt seit Jahren. Zunehmende Politikverdrossenheit? Die Statistiker der Stadt sind da vorsichtig. Sie sehen andere Gründe. Unter anderem, dass unter den Wahlberechtigten immer mehr eingebürgerte Stuttgarter sind.

Stuttgart - Mit der Wahlbeteiligung geht es seit Jahren immer mehr bergab – in Stuttgart meistens nur nicht ganz so stark wie in Bund oder Land. Nach der Befragung von rund 3700 Stuttgartern und nach der Auswertung der Antworten hat das Statistische Amt der Stadt Stuttgart in mancher Hinsicht nun aber Entwarnung gegeben: „Eine in die Breite gehende generelle Politikverdrossenheit oder ein grundsätzlicher Vertrauensverlust gegenüber Politik und Politikern ist aus den Ergebnissen nicht herauszulesen“, meint Amtsleiter Thomas Schwarz, auch „keine generelle Unzufriedenheit mit der Kommunalpolitik“. Er will den Rückgang der Wahlbeteiligung auch nicht als Legitimationskrise des politischen Systems deuten.

 

Seiner Meinung nach kann man aus den Ergebnissen aber nicht schlussfolgern, dass sich die Nichtwähler sozioökonomisch von der Gesellschaft abgehängt fühlen. Sie seien mit ihrem Lebensstandard und der Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zwar weniger zufrieden als Wähler. Sie favorisierten auch viel deutlicher einen sozial- und arbeitsmarktpolitisch fürsorglichen Staat, bei der Einschätzung der gesamten Lebensbedingungen seien Nichtwähler und Wähler aber nahezu gleich zufrieden. An einem Punkt ist für Schwarz der Unterschied deutlicher: Nichtwähler würden sich deutlich schwerer tun in der Beurteilung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Er sieht bei ihnen einen „Hang zur fatalistischen Akzeptanz der Gegebenheiten“.

Es gibt auch „konjunkturelle Nichtwähler“

Mit dem Abstand von rund einem Jahr hatte das Statistische Amt von den rund 3700 Stuttgartern wissen wollen, ob sie bei der Gemeinderatswahl am 25. Mai 2014 abstimmten. Von denen, die sich als wahlberechtigt zu erkennen gaben, bezeichneten sich 81 Prozent als Wähler, 19 Prozent als Nichtwähler – obwohl die tatsächliche Beteiligungsquote in Stuttgart auf einem Rekordtief von 46,6 Prozent lag.

Dass das Nichtwählen verschwiegen werde, sei kein unbekanntes Phänomen, erklärte Thomas Schwarz dazu. Außerdem hätten die angeblich verhinderten Personen unter den rund 600 bekennenden Nichtwählern – insgesamt immerhin rund 49 Prozent – in meisten Fällen wohl die Teilnahmehindernisse überwinden können. Der harte Kern derer, die grundsätzlich nicht wählen, lag bei der Umfrage bei acht Prozent. Weitere drei Prozent bezeichneten sich als Wahlverweigerer speziell bei Gemeinderatswahlen. Dieser Teil der „konjunkturellen Nichtwähler“, die sich situationsbedingt für oder gegen das Wählen entscheiden, nehme die Wichtigkeit der Kommunalpolitik für sich nicht wahr, halte die Kommunalpolitik innerhalb des politischen Systems nicht für bedeutsam oder könne ihre Bedeutung nicht einschätzen, meint Schwarz.

Was aber sind generelle Gründe für die Wahlenthaltung? Hier verweist der Autor der Nichtwähler-Studie auf den gestiegenen Anteil von jungen Wahlberechtigten einerseits sowie nicht in Deutschland geborenen Wahlberechtigten andererseits. Das sind Bevölkerungsgruppen, bei denen die Neigung zum Wahlverzicht überdurchschnittlich ausgeprägt ist. Zudem bezieht sich Schwarz auf den Rückzug des sogenannten „Wahlpflichtgefühls“. Das ist das Maß der Zustimmung zu der Aussage „In der Demokratie ist es die Pflicht jeden Bürgers, sich an Wahlen zu beteiligen“.

Das Wahlpflichtgefühl schwindet

Die Verbreitung und das Maß der Verbindlichkeit dieses Pflichtgefühls seien in den letzten Jahrzehnten geschwunden, sagt Schwarz mit Verweis auf verschiedene empirische Studien. Da die Generation der „Trümmer-Kinder“ mit ihren Eindrücken aus der zutiefst undemokratischen Nazizeit dahinschwindet, muss mit einem weiteren Schwund des Wahlpflichtgefühls gerechnet werden – und mit einer weiter nachlassenden Wahlbeteiligung.

Allerdings führt Schwarz eine ganze Reihe von Einflussfaktoren auf. Solche kollektiven Verhaltensnormen würden im Zuge der Sozialisationsphase erworben, sagt er, also im Lauf des Lebens im Umfeld von Familie, Bildungseinrichtungen, Beruf, Freundeskreisen und Netzwerken. Grundsätzlich sei das politische Interesse ein zentraler Schlüssel zur aktiven Teilnahme an Wahlen.

Eine vergleichsweise starke Wahlabstinenz attestiert Schwarz den Arbeitern und Arbeitslosen. Dagegen seien Selbstständige und noch viel mehr die Beamten „sehr wahlaffin“. Personen mit Hochschulabschluss würden „unterdurchschnittlich häufig zur Wahlenthaltung neigen“. Ähnliches gilt für Menschen mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 3000 Euro im Monat und mehr. Nicht ganz so bedeutsam, aber bemerkenswert findet Schwarz andere Faktoren. Die Neigung zur Wahlenthaltung sei am stärksten bei Personen zwischen 18 und 25 Jahren, etwas stärker auch bei Frauen als bei Männern.

Die Analyse ist im Monatsheft Nr.1/2016 des Statistischen Amts nachzulesen – zu kaufen in der Eberhardstraße 39 in der Stadtmitte und zu bestellen per Telefon (07 11 / 216 - 98 587) oder per E-Mail (komunis@stuttgart.de). Preis: vier Euro.