Dass sich offenbar tendenziell immer weniger Menschen angesprochen fühlen, wenn es darum geht, mit seiner Stimmabgabe die Grundfesten des freiheitlich demokratischen Staates zu festigen, ist mehr als bedauerlich. Darin liegt auf lange Sicht sicher ein Gefährdungspotenzial für die Demokratie. Aber zu glauben, dass mit einer Wahlpflicht diese Bedrohung beseitigt würde, ist irrig.

 

Das Konzept ist erstens nicht zu Ende gedacht und zweitens falsch. Nicht zu Ende gedacht ist die Wahlpflicht, weil sie sich nicht durchsetzen ließe – und auch das schadete dann der demokratischen Idee. Wer wollte kontrollieren, ob die Abwesenheit im Wahllokal dem Unwillen oder doch einer spontanen, aber durchaus legitimen Unpässlichkeit entsprungen ist? Will man sich diese Bürokratie wirklich leisten – gerade angesichts der deutschen Historie?

Stimmen für George Clooney?

Und selbst wenn die notorischen Wahlabstinenzler an der Urne erschienen: Was hilft es, wenn dann George Clooney oder Donald Duck kaum weniger Stimmen bekommen als der gewählte Kandidat? Wer seine Unzufriedenheit mit den herrschenden Parteien ausdrücken will, kann Wladimir Putin wählen oder zu Hause bleiben. Der Effekt ist der gleiche.

Falsch ist das Konzept, weil ein freiheitlicher Staat mit so wenig Vorschriften wie möglich auskommen sollte. Die Deutschen sind ohnehin mit Reglements nicht unterversorgt. Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, wächst aber nicht mit mehr Gängelung, im Gegenteil.

Bringschuld der Parteien

Eine Wahlpflicht würde indes allzu leicht die Parteien aus ihrer Verantwortung entlassen. Ihre Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes hat Verfassungsrang. Daraus ergibt sich auch ein Auftrag, sich nicht nur mit sich selbst und dem Machterhalt zu beschäftigen, sondern sich so aufzustellen, dass potenzielle Wähler auch wissen, warum sie einer Partei ihre Stimme geben sollen. Das ist eine Bringschuld der Parteien und keine Holschuld der Wahlbürger. Hier liegt noch erhebliches Verbesserungspotenzial. Das ist nicht einfach, keine Frage. Aber es ist allemal Ansporn für konstruktiven Wettbewerb.

Oberschicht ist wahleifriger

Diese Beobachtung hat auch Professor Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung gemacht. „Die Wahlbeteiligung der sozialen Oberschicht liegt um bis zu 40 Prozentpunkte über der Wahlbeteiligung der sozial schwächeren Milieus,“ schreibt Vehrkamp in einer Analyse der Bundestagswahl 2013. „Die sozial benachteiligten Milieus sind im Wahlergebnis um bis zu ein Drittel unterrepräsentiert.“ Er spricht von „einer tiefen sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung“. Die Wahlergebnisse „sind sozial nicht mehr repräsentativ“.

„Für die Demokratie besteht die Gefahr einer niedrigen und sozial ungleichen Wahlbeteiligung auch darin, dass die Politik sich an den sozial Bessergestellten orientieren könnte“, schreibt Schäfer.

Würde eine Wahlpflicht helfen? Es gibt sie in Belgien oder Griechenland. Verstöße werden aber nicht bestraft. Nur in Australien muss man mit einer Geldbuße rechnen. Österreich hat die Wahlpflicht erst abgeschafft. Und wie heißt es im Artikel 26 der baden-württembergischen Landesverfassung: „Die Ausübung des Wahl- und Stimmrechts ist Bürgerpflicht.“

Pro von Julia Bosch: Keine Vorteile für radikale Parteien

Zugegeben: Einige Länder mit einer Wahlpflicht wie beispielsweise Nordkorea, Libyen und Ägypten stehen nicht gerade für Freiheit und Demokratie. Doch der Gedanke hinter dem verpflichtenden Urnengang ist trotzdem eine Betrachtung wert.

Bei Wahlen entscheidet häufig nur ein Bruchteil der Stimmberechtigten für alle. Bei der Europawahl im Jahr 2009 etwa machten nur 43,2 Prozent von ihrem Recht Gebrauch. So entstand bereits bei 21,6 Prozent eine absolute Mehrheit – ein Fünftel aller Europäer entschied für den Rest.

Es geht um jeden Prozentpunkt

Das hängt damit zusammen, dass viele Menschen noch immer der Meinung sind, dass es sie in ihrem Alltag kaum beeinflussen wird, welche Parteien nun die Regierung bilden. Gerade die Landtagswahlen können da als Gegenbeispiel dienen: Wie viele Schüler dürfen maximal in der Klasse meines Kindes sein? Bekommen wir als Eltern zusätzliche Leistungen, wenn wir unser Kind zuhause betreuen? Sollen in meinem Stadtteil mehr Radwege gebaut werden oder ist der Straßenbau wichtiger? Andere Nichtwähler argumentieren mit der „Tropfen-auf-dem-heißem-Stein“-Logik: Ihre Stimme würde ja doch nichts ändern. Speziell bei dieser Wahl und auch vor fünf Jahren zeigt sich aber, dass es um jeden Prozentpunkt geht.

Eine Wahlpflicht würde gewährleisten, dass tatsächlich die gesamte Bevölkerung repräsentiert ist. Denn durch die Freiwilligkeit gewinnen vor allem die Parteien an Prozentpunkten, die für Protest und radikale Positionen stehen. Wut und Angst sind stärkere Motive als Zufriedenheit. Dadurch werden regierende Parteien und auch jene, die vieles aus der Opposition hinaus bewegen, benachteiligt.

Breites Spektrum

Und es besteht ja ein Unterschied darin, wenn in Deutschland eine Wahlpflicht bestehen würde oder eben in Libyen, Ägypten oder Nordkorea: Uns steht ein breites Parteienspektrum zur Verfügung. Ob man sich für eine der großen Parteien entscheidet oder seine Stimme einer Nischengruppierung gibt – eigentlich müsste jeder Wahlberechtigte eine Partei finden, deren Programm er zumindest stückweise teilen kann. Und notfalls kann man immer noch einen ungültigen Stimmzettel abgeben.

Kontra von Thomas Breining: Verantwortung der Parteien

Dass sich offenbar tendenziell immer weniger Menschen angesprochen fühlen, wenn es darum geht, mit seiner Stimmabgabe die Grundfesten des freiheitlich demokratischen Staates zu festigen, ist mehr als bedauerlich. Darin liegt auf lange Sicht sicher ein Gefährdungspotenzial für die Demokratie. Aber zu glauben, dass mit einer Wahlpflicht diese Bedrohung beseitigt würde, ist irrig.

Das Konzept ist erstens nicht zu Ende gedacht und zweitens falsch. Nicht zu Ende gedacht ist die Wahlpflicht, weil sie sich nicht durchsetzen ließe – und auch das schadete dann der demokratischen Idee. Wer wollte kontrollieren, ob die Abwesenheit im Wahllokal dem Unwillen oder doch einer spontanen, aber durchaus legitimen Unpässlichkeit entsprungen ist? Will man sich diese Bürokratie wirklich leisten – gerade angesichts der deutschen Historie?

Stimmen für George Clooney?

Und selbst wenn die notorischen Wahlabstinenzler an der Urne erschienen: Was hilft es, wenn dann George Clooney oder Donald Duck kaum weniger Stimmen bekommen als der gewählte Kandidat? Wer seine Unzufriedenheit mit den herrschenden Parteien ausdrücken will, kann Wladimir Putin wählen oder zu Hause bleiben. Der Effekt ist der gleiche.

Falsch ist das Konzept, weil ein freiheitlicher Staat mit so wenig Vorschriften wie möglich auskommen sollte. Die Deutschen sind ohnehin mit Reglements nicht unterversorgt. Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, wächst aber nicht mit mehr Gängelung, im Gegenteil.

Bringschuld der Parteien

Eine Wahlpflicht würde indes allzu leicht die Parteien aus ihrer Verantwortung entlassen. Ihre Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes hat Verfassungsrang. Daraus ergibt sich auch ein Auftrag, sich nicht nur mit sich selbst und dem Machterhalt zu beschäftigen, sondern sich so aufzustellen, dass potenzielle Wähler auch wissen, warum sie einer Partei ihre Stimme geben sollen. Das ist eine Bringschuld der Parteien und keine Holschuld der Wahlbürger. Hier liegt noch erhebliches Verbesserungspotenzial. Das ist nicht einfach, keine Frage. Aber es ist allemal Ansporn für konstruktiven Wettbewerb.