Nelly Eichhorn vom Theater am Olgaeck ruft am Donnerstag am Mahnmal der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft zum Nachdenken über die Sinti und Roma auf: „Diese Volksgruppe wird seit dem 16. Jahrhundert verfolgt und ausgegrenzt.“
Stuttgart - Auch wenn der Zahn der Zeit die Mahnung verblassen ließ. Der Text des Philosophen Ernst Bloch (1885 – 1977) am Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am Karlsplatz ist heute in Zeiten eines wachsenden Rassismus und Rechtsnationalismus gültiger denn je: „Verfemt, verstoßen, gemartert, erschlagen, erhängt, vergast. Millionen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beschwören dich: Niemals wieder!“
Natürlich denkt jeder bei diesen Zeilen an die über sechs Millionen Juden, die von den Nazis in der Schoah (hebräisch: Katastrophe) umgebracht wurden. Vielleicht reicht das Geschichtsbewusstsein auch für ein Gedenken an die vielen anderen Opfer der Verbrechen gegen die Menschlichkeit: die politisch Verfolgten, die Homosexuellen oder die Menschen mit Behinderung, die als unwertes Leben bezeichnet wurden. Die über 500 000 Sinti und Roma sind dagegen eher unsichtbar, weniger in der Erinnerungskultur präsent, wie auch Außenminister Heiko Maas (SPD) feststellt: „Der Völkermord an den Sinti und Roma während der NS-Zeit ist viel zu lange in Vergessenheit geraten. Noch heute gibt es großen Aufholbedarf bei der Auseinandersetzung mit diesem ebenfalls von Nazi-Deutschland ausgehenden Verbrechen.“
Internationaler Roma-Tag
Nicht so bei Nelly Eichhorn, die seit 2004 das Theater am Olgaeck betreibt und sich dem kulturellen Austausch und Dialog mit Osteuropa verpflichtet hat. Nun hat sie eine neue Mission: Sie veranstaltet in einer Kooperation mit den „AnStiftern“ und dem Roma Verein-Romano am Donnerstag, 8. April, 17.30 Uhr, anlässlich des Internationalen Roma-Tags, am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus beim Alten Schloss eine öffentliche Gedenkveranstaltung. „Auch heute noch sind Roma Diffamierung, Diskriminierung und sozialer, ökonomischer und politischer Marginalisierung ausgesetzt und in vielen Staaten eine von der Mehrheitsbevölkerung nicht erwünschte Minderheit. Antiziganismus wird in der Öffentlichkeit praktisch nicht wahrgenommen und geahndet, sondern findet eine immer breitere Akzeptanz in der Gesellschaft.“ Antiziganismus: Hinter diesem Wort verbirgt sich weit mehr als der unbewusste Umgang mit dem Z-Wort in der Alltagssprache. Wer ein Zigeunerschnitzel mit Pommes bestellt, ahnt meistens nicht, wie sehr der Umgang des Z-Wortes einen Sinto oder Roma verletzen kann. „Es ist eine Fremdbezeichnung. Roma bedeutet übersetzt einfach Mensch. Das Z-Wort ist das Gegenteil davon. Die Nazis machten uns mit dem Begriff zu Unmenschen, sie ritzten es Menschen wie mir in den KZs in die Haut“, erklärt Hamze Bytyci, Schauspieler und Vorsitzender des Vereins RomaTrial. Tatsächlich reicht die Diskriminierung der Sinti und Roma viel weiter zurück, als in die dunkelste Zeit deutscher Geschichte. „Diese Volksgruppe wird seit dem 16. Jahrhundert verfolgt und ausgegrenzt“, sagt Nelly Eichhorn. Und aus ihrer Sicht herrschen heute noch viel Unwissenheit und diffuse Ängste. Daher will sie, „dass auf die Situation von Sinti und Roma aufmerksam gemacht wird. Dass der Fokus der Presse, Medien und der breiten Öffentlichkeit auf die gegenwärtige Lage der Sinti und Roma gerichtet wird“.
Kultur baut Brücken
Sie selbst trägt zur Aufklärung mit einem Filmbeitrag aus der Geschichte und Gegenwart der Roma in Stuttgart mit Videobotschaften, Interviews, Lesungen, Romakochkurs und traditioneller Roma-Musik bei. Der Video-Beitrag soll im Internet zu sehen sein. Damit will Eichhorn dem vorgefertigten Bild über die Sinti und Roma entgegentreten. „Es herrscht eine große Abneigung in der Bevölkerung, weil sie fremd sind“, sagt sie und hofft auf das Wundermittel Kultur zur Überwindung von Vorurteilen und Ängsten. „Ich habe sehr herzliche Menschen bei meinen Gesprächen kennen gelernt, wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet“, sagt Eichhorn. Aber sie traf mitunter auch auf „Verschlossenheit und Vorsicht“. „Kein Wunder“, sagt sie, „bei dem Terror, den sie in Ungarn, Rumänien und Bulgarien erlebt haben“. Dabei wollten die Sinti und Roma auch in Stuttgart nur eines: „Akzeptiert werden, in Frieden leben und eine Zukunft für ihre Kinder haben.“
Marta Orsos bestätigt das. Die Roma kam 1989 mit ihrer Mutter aus Ungarn nach Stuttgart und hat hier Kultur- und Medienbildung studiert. Sie kennt die Schubladen, in die sie selbst sowie andere Sinti und Roma oft gesteckt werden: „Man denkt: Die sind alle gleich.“ Alle lungern und nächtigen im Schlosspark oder betteln. „Und wer eine Frau mit langem Rock sieht“, so Orsos, „denkt sofort: Oh, Gott! Jetzt bald die ganze Sippe hinterher.“ Kaum einer setze sich damit auseinander, dass es auch bei den Sinti und Roma verschiedene Gruppen gibt. „Wer aus Rumänien kommt, ist anders sozialisiert, spricht anders, denkt anders als jemand aus Makedonien. Die Z gibt es nicht – außer als eine rassistische Konstruktion der Dominanzgesellschaft“, sagte Hamze Bytyci jüngst in einem Interview mit der „Zeit“. Die dreifache Mutter Orsos kritisiert zudem, dass „bei den Sinti und Roma immer nur das Negative gezeigt wird. Nur die Armuts-Roma.“ Natürlich herrsche unter dieser Volksgruppe viel Armut, weiß die 41-Jährige, daher bittet sie die Stadtgesellschaft auch um Hilfe: „Wir Roma führen keine Kriege, wir sind anpassungsfähig, wollen im Grunde nur akzeptiert und nicht auf das Übelste reduziert werden.“ Sie will daher Nelly Eichhorn dabei helfen, aufzuklären und Brücken zu bauen. Man könnte auch sagen: Sie will nicht weniger als im Wortsinn als Roma gesehen werden – als Mensch.