In Stuttgart haben Bürger, Politik und Kirche der Deportation von 234 Sinti und Roma nach Auschwitz vor 70 Jahren gedacht. Die Bischöfe bekannten eine Mitschuld der Kirchen an dem Verbrechen. Ein Staatsvertrag mit den Sinti und Roma soll nun dazu dienen, dass deren kulturelle Identität besser gefördert wird.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Ein eiskalter Wind wehte am Freitag am Nordbahnhof über die Gedenkstätte. Die zarten Töne, die der Musiker Ferenc Snetberger seiner Gitarre entlockte, wurden schnell über die Gleise davongetragen. Genauso hatte sich lange auch die Erinnerung an jene 234 Sinti und Roma verflüchtigt, die am 15. März 1943 vom Nordbahnhof aus nach Auschwitz deportiert worden waren. Erst vor wenigen Jahren begann die historische Recherche über jene Menschen. Die Außenwand am Nordbahnhof sei nun „der einzige Ort in der Welt, an dem alle ihre Namen verewigt sind“, sagte Roland Ostertag, der Vorsitzende des Vereins Zeichen der Erinnerung, vor 150 Menschen, die zur Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation gekommen waren.

 

In ihren Reden hoben die Vertreter aus Politik und Kirche hervor, dass bei den Sinti und Roma die Diskriminierung und Ausgrenzung bis heute andauere. Nach 1945 habe die sprachliche Diktion der Nazis in vielen Amtsstuben fortbestanden, sagte Martin Schairer, Stuttgarts Bürgermeister für Ordnung und Sicherheit. Und bis heute sagen laut einer Umfrage 40 Prozent der Menschen, sie hätten Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Nähe aufhielten. Die jahrhundertelange Ausgrenzung habe die Sinti und Roma von Bildung und Arbeit ausgeschlossen, sagte der frühere Prälat Martin Klumpp; und nun nutze man deren Armut als Argument, die Ausgrenzung wieder zu rechtfertigen: „Das ist ein Teufelskreis“, so Klumpp.

Bekenntnis der Kirchen zur Mitschuld an den Verbrechen

Im Gottesdienst, der sich im Dom St. Eberhard anschloss, bekannten der katholische Bischof Gebhard Fürst und der badische evangelische Landesbischof Ulrich Fischer eine Mitschuld der Kirchen an den Gräueltaten gegen Sinti und Roma im Nationalsozialismus „durch Amtshilfe, aber auch durch Wegsehen und Schweigen“. Aus dem Südwesten waren fünf Transporte mit 456 Menschen nach Auschwitz gefahren.

Bischof Fürst ging aber vor allem auf die Gegenwart ein: Es sei beschämend, dass die deutschen Sinti und Roma mittlerweile zwar als Minderheit anerkannt seien, „dass aber denen, die als Flüchtlinge hierherkommen, keinerlei Existenzmöglichkeiten gewährt werden“, kritisierte Fürst.

Land und Minderheitenverband wollen Staatsvertrag schließen

Ein wichtiger Schritt in die Zukunft ist für Daniel Strauß, den Vorsitzenden des Landesverbandes der Sinti und Roma, ein Staatsvertrag zwischen Land und Verband. Bei einem Empfang im Neuen Schloss sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der Vertrag soll noch im Sommer im Landtag verabschiedet werden. Er solle das gesellschaftliche Miteinander und die kulturelle Identität der Sinti und Roma stärken.

Als Sinti werden die in West- und Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit bezeichnet, als Roma jene mit ost- und südosteuropäischer Herkunft. In Deutschland leben 150 000 Sinti und Roma. Die meisten sind sesshaft und sprechen neben Deutsch auch Romanes, das sich vom altindischen Sanskrit ableitet und viele Ausprägungen kennt. Die Sinti und Roma kamen aus Indien; in Deutschland leben sie seit 600 Jahren.