Sir Ivan Rogers gibt sein Amt als britischer Botschafter in Brüssel auf. In einer Mail an seine Mitarbeiter lässt er durchblicken, dass die Regierung noch keine Strategie für den Brexit hat. Vermutungen gehen in Richtung einer Totalabkoppelung der Insel von Europa.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Der unerwartete Rücktritt Sir Ivan Rogers, des britischen Botschafters in Brüssel, hat jetzt Vermutungen neue Nahrung gegeben, dass die Regierung in London geradewegs auf einen harten Brexit, auf die Totalabkoppelung der Insel von Europa, zuhält – und nicht länger auf Kompromisse eingestellt ist. Ohne einen Plan für die bald beginnenden Austrittsverhandlungen mit der EU und ohne genügend erfahrene Unterhändler an ihrer Seite, findet sich Premierministerin Theresa May in einer zunehmend schwierigen Lage.

 

Leidenschaftlicher Appell zum Abschied

Dabei hat May gelobt, den britischen Austritt spätestens Ende März dieses Jahres feierlich zu erklären, und dann unmittelbar Verhandlungen aufzunehmen. Das Problem, das die Regierungschefin hat, ist durch den Rücktritt Rogers und durch dessen leidenschaftlichen Abschiedsappell in einer Mail an seine Mitarbeiter und diplomatischen Kollegen deutlich geworden. Der Botschafter, der als einer der intimsten EU-Kenner Großbritanniens gilt, hat bei seinem Abgang vor Brexit-Argumenten gewarnt, „die aller Grundlage entbehren“. Er hat scharf das „konfuse Denken“ gewisser Politiker kritisiert. Zugleich enthüllte Rogers, dass es bislang weder eine Verhandlungsstrategie noch ein Verhandlungsteam gibt in London. Er forderte andere Staatsbeamte auf, sich nicht einschüchtern zu lassen von der großen Politik. Man müsse hartnäckig „den Mächtigen die Meinung sagen“ – auch wenn sich das als äußerst unbequem erweisen könne.

Zehn Jahre Abschied

Sir Ivan Rogers eigene Schlussfolgerungen in Sachen Brexit sind in den letzten Monaten mehrfach bekannt geworden. Seit dem Referendum vom vorigen Juni hat er im eigenen Land häufig auf Schwierigkeiten aller Art bei der Umsetzung eines Bruchs mit der EU hingewiesen – und auch die Auffassungen der britischen EU-Partner zum Brexit und deren Vorstellungen von der Zukunft deutlich gemacht. Im Oktober meldete die BBC, Rogers habe Ministern erklärt, die Scheidung von der EU könne sich volle zehn Jahre hinziehen. Das führte zu wütenden Reaktion vieler Brexit-Befürworter.

Auch Regierungschefin Mays Verhältnis zu ihrem EU-Emissär begann sich abzukühlen. Von Mays Top-Beratern wurde Rogers vor Weihnachten praktisch kalt gestellt. Letztlich fand der isolierte Chef-Diplomat der Briten bei der EU, dass er nicht mehr genug Rückhalt in Downing Street hatte, um noch bis Herbst dieses Jahres im Amt zu bleiben und damit den Beginn der Austrittsverhandlungen zu begleiten. Für die Tory-Rechte und für die Unabhängigkeits-Partei Ukip aber war Rogers Rücktritt ein verspätetes Weihnachtsgeschenk.

Schon immer ein trostloser Pessimist gewesen

Der konservative Ex-Parteichef Iain Duncan Smith betrachtete Rogers Rücktritt als zwangsläufig, weil man dem Botschafter „nicht mehr habe trauen können“. Rogers sei schon immer „ein trostloser Pessimist“ gewesen, der nicht begreifen wollte, was für eine fantastische Zukunft den Briten mit Brexit bevorstehe, stimmten andere Parteifreunde Duncan Smith freudig zu. Ex-Ukip-Chef Nigel Farage forderte, dass nun ein begeisterter Brexit-Befürworter den Posten in Brüssel übernehmen müsse und dass es Zeit sei, Großbritanniens gesamten diplomatischen Dienst von Brexit-Skeptikern und Pro-Europäern zu säubern. „Ich hoffe doch sehr, dass Sir Ivan nur der erste von vielen ist, die zu gehen haben“, sagt Farage.

Auf der anderen Seite, im Lager der Brexit-Gegner, herrschte Bestürzung darüber, dass einer der besten EU-Kenner des Landes geht. „Wir brauchen unsere Spitzenleute am Verhandlungstisch“, erklärte Tim Farron, der Vorsitzende der Liberaldemokraten, „wenn wir verhindern wollen, dass wir unser Land mit Brexit zugrunde richten.“ Nick Clegg, der frühere Vize-Premier, der selbst einmal in Brüssel arbeitete, wies darauf hin, dass immer mehr Briten, die Fragen zum Brexit hätten, jetzt angefeindet würden. „Erst waren es die Richter, die als Volksfeinde verunglimpft wurden, nur weil sie ihrer Pflicht nachkamen. Dann waren es der Unternehmerverband und die Geschäftsleute, die den Brexit-Feuereifer nicht mitmachen wollten – und nun sind es hohe Staatsbeamte, denen die Brexit-Presse die Kniescheiben zerschießt.“ http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.grossbritannien-ehemaliger-britischer-eu- botschafter-kritisiert-regierung.c52b5c75-6000-481a-84ba-fea196e44073