Siri Hustvedts Essays „Mütter, Väter und Täter“ Immer diese moralischen Gefühle gegenüber Müttern

Um die „gute Mutter“ ranken sich viele Mythen. Foto: Unsplash/Steven Abraham

Siri Hustvedts Essaysammlung „Mütter, Väter und Täter“, die jetzt auf Deutsch erscheinen, blicken nicht nur neu auf Mutterschaft und Frauen, ihre Körper und Geschichten. Sie stellen auch gängige wissenschaftliche Analysen in Frage.

Familie, Zusammenleben und Bildung: Eva-Maria Manz (ema)

Siri Hustvedt erinnert sich, wie sie einmal, ihr Kind war noch ganz klein, mit Taschen behängt und dem Buggy vor sich herschiebend eine Rolltreppe auf einem Flughafen hinunter fährt. Das Kind kippt im Buggy plötzlich nach vorne. Sie, die Mutter, sieht im letzten Moment, dass es nicht angeschnallt ist, packt es – und die Katastrophe ist abgewendet. Doch ein Passant hat den Vorfall beobachtet, und Hustvedt bemerkt sofort seinen „Blick des Abscheus“, in seinen Augen sieht sie sich: „ein Monster an Fahrlässigkeit, die schlechte Mutter“.

 

Die einengende Ideologie der Mutterschaft

Denn es gibt sie noch immer, jene heftigen „moralischen“ Gefühle gegenüber Müttern. In ihrer neu erschienenen Essaysammlung schreibt die amerikanische Autorin: „Obwohl Feministinnen seit langem gegen die einengende Ideologie der Mutterschaft rebelliert haben, ist der entrüstete Richter keine Figur der Vergangenheit.“ Wer sich in diesem engen Raum bewegt, dem ist jeder Zweifel am Bild der glücklich-sorgenden Mutter ein Splitter im Fleisch. Er provoziert, schürt Hass, wie etwa gegenüber den Aktivistinnen der Regretting-Motherhood-Bewegung vor einigen Jahren, die öffentlich angaben, es zu bereuen, Mutter geworden zu sein.

Autorin Siri Hustvedt Foto: dpa

Dabei ergäben sich gerade daraus neue Reflexionsmöglichkeiten, wenn dieses Feld des Alltäglichen von seiner mystischen Überhöhung befreit, von allzu emotionalen Zuschreibungen gelöst werden könnte. Doch nicht nur in den USA, auch in Deutschland ist Mutterschaft eingebettet in ein kompliziertes Konstrukt aus Tradition und Struktur. In einem Podcast mit der Heidelberger Autorin Jagoda Marinic, bei dem Siri Hustvedt 2021 zu Gast war, sagte sie sogar: „Ich glaube, was dieses Thema angeht, ist Deutschland noch weiter hintendran als die USA.“ Hustvedt schreibt: „Die Institution Mutterschaft“ sei „eine Sozialstruktur mit Regeln, die kollektives Verhalten organisieren“. Und: „Kein Mensch kann aus der Welt, in der er lebt, herausgehoben werden. Keiner kann aus seinem Kontext gelöst werden.“

Hustvedt zerlegt in ihren Essays äußerst kunstvoll Urteile und stellt Blickwinkel in Frage. Die Autorin, Jahrgang 1955, die neben etlichen Romanen auch vielbeachtete Beiträge im Bereich der Neurowissenschaften veröffentlich hat, nähert sich den Graubereichen des Lebens. Dabei entwirft sie bewusst ein Gegenbild zu vielen herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden, die, wie Hustvedt schreibt, „geradezu versessen“ sind „auf absolute Grenzen und hermetisch versiegelte Räume.“

Sie stellt herkömmliche Sichtweisen in Frage

Jene klar abgegrenzten Räume wollen, so die These, viele Wissenschaftler nicht „kontaminiert“ sehen. Diese Sichtweise identifiziert Hustvedt als eine eher männliche, die der Lebenswelt nicht nur von Frauen, sondern aller Menschen, nicht gerecht werde. Beginne schließlich schon der erste Moment des menschlichen Lebens mit einer Vermischung: dann, wenn Spermium und Ei „gemeinsam eine Zygote erschaffen“. Gerade bei ihrer Beschäftigung mit der Embryologie stellt die Autorin fest, wie stark das Vokabular sich an Schlachtenbildern bedient, etwa dann, wenn die Rede ist von „aggressiven“ Spermien, von „Invasionen“ der Gebärmutterschleimhaut und vom „Kampf“ der Ressourcen zwischen Mutter und Kind.

Hustvedts Analysen sind deshalb so lesenswert, weil sie diese herkömmlichen Sichtweisen in Frage stellen. Einerseits indem sie aufdecken, dass hinter bestimmten Mechanismen Methode steckt: Machterhalt und Misogynie, also Frauenhass etwa. Und andererseits indem sie die gezogenen Grenzen performativ verletzen: Die Analysen sind selbst dieser Splitter im Fleisch der männlich beherrschten Wissenschaftsdiskurse. Eine weibliche Perspektive, die alles, was bisher da ist, jeden Blick, jede Betrachtung ins Wanken bringen kann.

Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter. Aus dem Englischen übersetzt von Grete Osterwald und Uli Aumüller. Rowohlt, 28 Euro.

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