Ob wir ein Leben lang ein und dieselbe Person bleiben, fragt sich die amerikanische Autorin Siri Hustvedt in ihrem aktuellen Roman „Damals“. Im New York der 70er-Jahre entdeckt eine junge Frau die Macht des Erzählens.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Stuttgart - Wenn Siri Hustvedt einen Roman vorlegt, der im Original „Memories of the Future“ – Erinnerungen an die Zukunft – heißt, kann man davon ausgehen, dass die auch für ihre philosophischen Essays bekannte Denkerin ihm ein kompliziertes Theoriemodell zugrunde gelegt hat. „Innerhalb dieses Buchs“, heißt es gleich zu Beginn, „leben die junge und die alte Person Seite an Seite in den prekären Wahrheiten der Erinnerung“. Die alte Person ist die Protagonistin mit 61 Jahren, die durch Zufall das Tagebuch ihres jüngeren Ichs findet und sich darin sucht. Die junge, das ist dieselbe Frau mit 23 Jahren, gerade aus Minnesota nach New York gezogen, um an ihrem ersten Roman zu schreiben. Hustvedt erzählt in „Damals“, so der deutsche Titel, die Geschichte beider Frauen nebeneinander.

 

Minnesota, wie die 23-Jährige bald von ihren neuen New Yorker Freunden genannt wird, bewohnt ein heruntergekommenes Zimmer und wandelt suchend durch die Stadt. Jung, schön und hungrig kann sie natürlich keinen Mangel an Verehrern beklagen, doch keiner ist ihr „Held genug“. Das liegt am Ende auch daran, dass Minnesota selbst die Heldin dieser Geschichte werden soll. Und in der Realität dann erst einmal das erfährt, was wohl jeder kennt, der als junger Mensch in die Großstadt kommt, um Abenteuer zu erleben: Man ist immer da, wo es gerade nicht passiert. Was folgt, ist eine Form von produktiver Einsamkeit, eine im Grunde für die Entwicklung unentbehrliche Dauerisolation in der eigenen Gedankenwelt.

Leidenschaftliche Romantik einer Möchtegernlebenskünstlerin

Dort wohnen bei der jungen Frau George Eliot, Djuna Barnes, Simone Weil und die Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, eine exzentrische Dada-Dichterin, die die wahre Erfinderin von Marcel Duchamps Urinal gewesen sein soll.

Und wenn sich die beinahe mittellose Minnesota dann ab und zu ein halbes Sandwich aus dem Müll fischt, ist das nicht schnöde Hungersnot, sondern leidenschaftliche Romantik einer Möchtegernlebenskünstlerin, die entschlossen ist, „alle Bücher in den Bibliotheken dieser Welt“ zu lesen, um so groß zu sein, wie es nur geht, eine „Riesin auf Erden“. Zu Hause in ihrem Zimmer weckt das Weinen ihrer Nachbarin ihr Interesse, sehnsüchtig auf Geschichten lauernd lauscht Minnesota an den dünnen Wänden. Sie schreibt an einer Kriminalgeschichte, doch ihr „Standardheld“ lässt sich immer mehr von der ihm zur Seite gestellten Frau verdrängen: Watson wird selbst zu Sherlock.

Die Protagonistin, im weiteren Verlauf auch S. H. genannt, ist der Autorin frappierend ähnlich. Ebenso wie Hustvedt selbst stammt sie aus Minnesota, kommt 1978 nach New York und ist norwegischer Abstammung. Da Minnesota im Laufe ihrer ersten Großstadtjahre dann von einem Mann sexuell belästigt wird, ist „Damals“ in den vergangenen Monaten von der Kritik als Hustvedts Beitrag zur Metoo-Debatte missverstanden worden. Doch so schrecklich die beschriebene Erfahrung ist, in der Erzählung bildet sie keinen poetologischen Höhepunkt. Vielmehr ist sie als eine von etlichen Kränkungen beschrieben – und darin liegt dann eher die Systemkritik –, die einer Frau widerfährt, die schon als Kind lernen musste: „Ich will eine Heldin sein. Ich bin keine Heldin. Ich bin ein Mädchen, und das ist bitter.“

Gibt es dann überhaupt eine immerwährende, feste Identität?

Selbstverständlich schärft sich dennoch im weiteren Verlauf das Profil der „Künstlerin als junger Frau“. Der Weg dorthin, und das ist die Schwäche des Romans, ist jedoch recht vergeistigt konstruiert, und basiert auf der Vorstellung des Minkowski-Raums, einer mathematischen Theorie über Vierdimensionalität, wo – so die Theorie – das junge und das alte Ich verbunden sein können. Damit fragt Hustvedt, was den Menschen in sich zusammenhält: Wenn wir mit 60 eine ganz andere sind als noch mit 20, gibt es dann überhaupt eine Verwandtschaft mit unserem früheren Selbst, gibt es eine immerwährende, feste Identität?

Die 61-jährige S. H. ordnet die Tagebuchaufzeichnungen ein, ist verunsichert, erlebt, dass „Erinnern und Fantasieren ineinander übergehen“. Sie wundert sich immer wieder, lernt scheinbar Neues, denn „das Gedächtnis ist nicht nur unzuverlässig. Es ist porös“. Erinnerung kann trügerisch sein, und „Vergangenheit ist fragil, fragil, wie Knochen, die mit dem Alter brüchig geworden sind“.

Eine Versöhnung für das umfassend Fragmentarische

Wie funktioniert Erinnerung? Die Nachbarin Lucy spricht abends im geheimnisvollen Nebenzimmer mantrenhaft immer gleiche Sätze: „Bin traurig, bin traurig“ – Vergangenheit ist Konstruktion, gebaut mit den Mächten der nimmermüden Wiederholung, und Erinnern, das ist: Geschichten erzählen. Minnesotas „Standardheld“ scheitert am Lösen seiner Kriminalfälle, weil er alles als relevanten Hinweis interpretiert, jedem Zeichen eine Bedeutung beimisst und es als „Bestandteil des Wegs“ verbucht, der „zu einer Lösung führt“. Hustvedts Roman verneint diese Stringenz und bietet vieles zugleich an – nur um einiges am Ende doch im Halbdunkel zu belassen.

Eine Versöhnung für das umfassend Fragmentarische ergibt sich für den Roman aus dem Einenden der Erzählkraft, dem Schöpferisch-Kreativen des Erinnerns. Einem ständig in Auflösung begriffenen Individuum hingegen bleibt nur die Affirmation seines prekären Zustandes, gezeigt in einer Art Unio mystica, die Minnesota in den Wäldern ihrer Kindheit erlebt hatte. Sie legte sich ins Gras, und „dann war ich nicht mehr ,ich‘, sondern eine in allem enthaltene Kreatur, im Rascheln der Blätter über mir, im feuchten Geruch der Bachauen, in den durchweichten, faulenden Ästen und den im Schachtelhalm hüpfenden Sonnenflecken“.