Vor 500 Jahren enthüllte Michelangelo seine Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle in Rom. Was die Kollegen dem als Bildhauer berühmten Künstler gar nicht zugetraut hätten: er konnte auch malen – und wie!

Rom - Das konnte nichts werden. Da war sich Donato Bramante, der Baumeister des frisch begonnenen Petersdoms, ganz sicher. Natürlich, Michelangelo Buonarroti (33) war trotz seiner Jugend ein unschlagbar genialer Bildhauer: die Pietà in Rom, der David in Florenz . . . Als Maler aber? Gar in der hohen, heiklen Kunst der Freskentechnik? Das hatte er nie gemacht; da konnte der verschrobene, dauernd ungewaschene Florentiner nur auf die Nase fallen. Man musste ihn nur ködern – Geld schluckte dieser Geizkragen immer in rauen Mengen –, dann würde man ihn von der Bildhauerei ablenken, sein Stern würde sinken, und modernere, umgänglichere Künstler könnten aufsteigen. Der in allen Salons gehätschelte Raffael zum Beispiel.

 

So dachten und intrigierten sie am Hofe von Papst Julius II., der sich so gerne „der Göttliche“ nennen ließ. Und Michelangelo biss tatsächlich an – doch als er gut vier Jahre später, am 31. Oktober 1512, seine monumentalen Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle enthüllte, ging allen schlagartig auf, dass dieser „Nicht-Maler“ die Geschichte der Malerei revolutioniert hatte. Michelangelo hatte Maßstäbe gesetzt, an denen keiner mehr vorbeikam. „Das Werk war von der Art“, so schreibt der zeitgenössische Maler und Künstlerbiograf Giorgio Vasari, „dass es jedermann erstaunen und verstummen ließ. Gleich als es freigelegt war, kam die ganze Welt herbeigelaufen, es anzuschauen.“

So ist es geblieben. Heute schieben sich jedes Jahr fünf Millionen Besucher durch die Vatikanischen Museen, bis zu 20 000 am Tag. Die Säle, voller antiker Skulpturen, voller Renaissance-Wandteppiche oder barocker Großlandkarten, sind für die globalisierten Touristenmassen nur mehr Zulaufstrecken zum einzig wahren Ziel. Doch was heißt „Zulauf“: Auf den endlosen Korridoren herrscht bestenfalls Stop-and-go-Verkehr; es riecht nach Schweiß und Parfüm und Zigaretten und Verdauungsproblemen. Fotografiert wird alles, gesehen praktisch nichts. Und wer sich schließlich – gleich nach jener Ecke, um die Kaffeeschwaden wehen und hinter der die Bar Forno mit ihrem Geschirr klappert – unversehens in einem hohen Saal wiederfindet, der braucht eine Weile, bis er kapiert, dass er angekommen ist.

Durch die Kapelle braust ein Stimmengewirr

Der Touristeneingang nämlich liegt genau gegenüber dem Portal, auf das Michelangelo seine doppelte Komposition aus Deckenfresken (1508–12) und Jüngstem Gericht (1536–41) ausgerichtet hat. Deshalb schreiten die heutigen Sterblichen nicht auf das Weltgericht zu; sie sehen es erst, wenn sie sich umdrehen. Dann merken sie, sie sind genau unten durchgegangen, auf der Seite des Höllensturzes auch noch. Irgendwie, auf ihre Art, stimmt die Sache dann doch wieder.

Von Vasaris „allgemeinem Verstummen“ kann keine Rede mehr sein. Durch die Sixtinische Kapelle braust ein Stimmengewirr, das die Wärter mit unaufhörlichem „Sch-Sch-Sch!“ und ihrem „No-foto-no-video!“ nur noch aufdringlicher machen. Das langsame Herumgehen, das Kunstführer allen empfehlen, die Michelangelos raffinierte, wechselnde, raumgreifende Perspektivtechnik studieren wollen, das schafft im heutigen Gedränge niemand mehr.

Dabei ist es Michelangelo nicht nur gelungen, hinter einer gemalten Scheinarchitektur die gemauerten Gewölbestrukturen der damals vierzig Jahre jungen Kapelle verschwinden zu lassen. Mit einer Komposition aus weltlichen und biblischen Motiven, aus nackten Jünglingen und Propheten des Alten Testaments, aus den praktisch nie gemalten „Vorfahren des Messias“ und den heidnischen Sibyllen hat er sämtliche ikonografischen Standards über den Haufen geworfen – die seiner Zeit sowieso, und auch nach ihm hat sich keiner mehr solche Freiheiten erlaubt. Dabei hatte Julius II. nur zwölf Apostelfiguren mit geometrischen Mustern dazwischen bestellt.

Die Gesamtkomposition sprengt jeden Rahmen

Michelangelo habe bildhaft darstellen wollen, so lautet die brave kirchliche Deutung, dass von der Erschaffung der Welt alles auf Jesus Christus zulaufe.Die Gesamtkomposition indes sprengt jeden Rahmen. So einheitlich sie auf ihren gut tausend Quadratmetern wirkt, entzieht sie sich doch jeder einschichtigen Interpretation.

Die Qualen Michelangelos beim Malen auf dem knapp zwanzig Meter hohen Gerüst sind legendär. Jahrelang hatte er verrenkt und über Kopf zu arbeiten, Gesicht und Bart voller Farbspritzer; „des Geistes Fracht spür ich im G’nick, der Arsch hält mir das Kreuz im Gleichgewicht, und geh ich, kann ich meine Füß’ nicht sehn“, hat er gedichtet. Dazu kam die handwerkliche Frustration. Das Freskenmalen musste er sich selbst erst beibringen; anfangs verschimmelten ihm die feuchten Bilder unter der Hand. Die Arbeit eines ganzen Monats musste er heruntermeißeln.

Die Schritte, mit denen Michelangelo handwerklich und inhaltlich souverän wurde – von der allzu kleinteilig gepinselten Sintflut bis zur weltberühmten Belebung des Adam, von dem versteinerten Monumentalgott, der die Eva erschafft, bis hin zum prallen Hinterteil eines ungestüm fliegenden Weltenschöpfers – das alles ließe sich in der Sixtinischen Kapelle studieren, vorausgesetzt, man hätte die Ruhe und die Zeit dazu.

So weit aber wird es wohl nie mehr kommen. Antonio Paolucci, der Chef der Vatikanischen Museen, hält die Kunst heute für „demokratisiert“ und eine Begrenzung des Besucherstroms deshalb für „undenkbar“. Auch wenn die Massen mit ihrer Atemluft, ihrem Gedränge, ihrer Temperatur, ihren Ausdünstungen, ihrem Staub eine unbestreitbar schwere Gefahr für die Gemälde darstellten – man könne nur die Schäden begrenzen, meint Paolucci.

Die Klimaanlage, die nach der großen Restaurierung in den achtziger Jahren eingebaut worden ist, schafft es jedenfalls nicht mehr. Die Zahl der Besucher hat sich seither verdoppelt. Demnächst werden eine neue Anlage, ein noch wirksamerer Staubschutz, eine noch bessere Beleuchtung eingebaut. Sicherheit geben sie keine. Nur die Hoffnung, dass Michelangelos Werk auch die nächsten fünfhundert Jahre noch überdauern möge.