Sie wurden eingesperrt, misshandelt und mussten mit Ratten, Zecken und Flöhen auf dem Boden schlafen: Die mexikanischen Behörden haben fast 500 Kinder und mehr als 100 Erwachsene aus einem „Armenheim“ gerettet.

Korrespondenten: Klaus Ehringfeld (ehr)

Mexiko-Stadt - Sie lebten zwischen Ungeziefer, sie wurden misshandelt, und sie bekamen verdorbenes Essen vorgesetzt: 462 Kinder und 138 Erwachsene sind jahrelang in einem Armenheim im Westen Mexikos gegen ihren Willen festgehalten und jetzt in einer groß angelegten Aktion von den Sicherheitsbehörden befreit worden. Unter den Opfern seien Babys bis hin zu Erwachsenen gewesen, sagten der Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam und der Gouverneur des Bundesstaates Michoacán, Salvador Jara, am Mittwoch auf einer Pressekonferenz.

 

Das Heim mit dem Namen La gran Familia liegt in Zamora im Bundesstaat Michoacán. Das mexikanische Militär und die Bundespolizei befreiten die Opfer bereits am Dienstag bei einem gemeinsamen Einsatz. Dabei wurden die Gründerin und Leiterin des Heims, Rosa Del Carmen Verduzco, sowie weitere acht Mitarbeiter unter dem Vorwurf der Freiheitsberaubung und Misshandlung festgenommen.

Nach außen hin eine heile Welt

„Unter den Geretteten waren sechs Babys und Erwachsene im Alter von 40 Jahren“, sagte Murillo Karam. Die Behörden wurden auf das Heim aufmerksam, nachdem Eltern sich darüber beschwert hatten, dass sie ihre Kinder nicht besuchen durften oder diese nicht aus dem Heim gelassen wurden. Die ersten Hinweise erhielten die Jugend- und Sozialämter offensichtlich schon vor einem Jahr.

La gran Familia (Die große Familie) wurde 1947 gegründet und kümmert sich nach eigenem Bekunden um Kinder von überforderten Eltern. Finanziert wird die Organisation durch Spenden und von der Regierung. Laut ihrem Auftritt bei Facebook bietet das Heim Kindern Schutz, die aus verwahrlosten Verhältnissen stammen: „Straßenkinder, Kindern von Verbrechern oder Drogenabhängigen“. Demnach wurden alle 600 Schützlinge von der Heimleiterin adoptiert und trugen den Nachnamen Verduzco. Insgesamt wirkt der Auftritt in den sozialen Netzwerken idyllisch. Er zeigt Bilder von Chorstunden und der Leiterin inmitten einer Traube von Kindern, die sie umarmen.

Die Wirklichkeit sah laut Zeugenaussagen dramatisch anders aus. Die Umstände in der Unterkunft seien fürchterlich gewesen, berichtete Karam weiter. Die Schützlinge hätten auf dem Boden schlafen müssen, wo sich Ratten, Zecken und Flöhe getummelt hätten. Viele der Opfer hätten nie das Gelände verlassen dürfen. Zudem seien sie zu sexuellen Dienstleistungen gezwungen worden: „Ich kann nicht fassen, dass es solche Zustände in diesem Heim gegeben hat“, ergänzte der Gouverneur Jara.

Wie im Gefängnis

Die Ermittler untersuchen gegenwärtig vor allem wie es möglich war, die Menschen so lange gegen ihren Willen in der Einrichtung festzuhalten. Ein junger Mann sagte der Staatsanwaltschaft, er habe das Heim verlassen wollen, als er volljährig wurde, sei dann aber 13 weitere Jahre eingeschlossen worden. Demnach seien ihm sogar seine beiden Kinder weggenommen worden, die er mit seiner Partnerin bekam, während er in La Gran Familia einsaß. Derzeit werden die Eltern von zehn Kindern als Zeugen vernommen, um den Skandal aufzuklären.

Gerardo Sauri, der ehemalige Direktor der Kinderschutzorganisation Red por los Derechos de la Infancia, bezeichnete La gran Familia als ein Gefängnis. Die Leiterin, die „Mama Rosa“ oder einfach „Die Chefin“ genannt wird, habe für die Freilassung der Kinder bis zu 400 000 Peso verlangt – 23 000 Euro. Es ist kaum denkbar, dass ein solches Heim unter den Bedingungen solange funktionieren konnte, ohne dass es von korrumpierten Behörden gedeckt wurde.