Der Oberstdorfer Karl Geiger ist in Gedanken bei seiner schwangeren Frau und wird trotzdem Weltmeister im Skifliegen. Über den größten Triumph seiner Karriere wundern sich alle – und freuen sich mit dem coolen Athleten aus dem Allgäu.

Sport: Dominik Ignée (doi)

Stuttgart - Karl Geiger hat Nerven, das muss man ihm lassen. Seine Frau Franziska weilt hochschwanger zu Hause, jederzeit kann er Vater werden. Aber weil er ja noch berufstätig und so eine Skiflug-Weltmeisterschaft nicht unbedingt ein nachgeordneter Termin ist, fliegt er im slowenischen Planica durch die Lüfte – in einer unglaublichen Form, die zum WM-Titel reicht. Der künftige Vater hat sich noch schnell zum Weltmeister küren lassen, ganz nebenbei, ohne Tamtam, das sowieso nicht seine Sache ist, und schnappt sich vor der Niederkunft kurz mal den größten Erfolg seiner Karriere.

 

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Der Oberstdorfer ist kraft seiner Herkunft ohnehin das, was sie im DSV-Lager als coolen Hund bezeichnen und im Hinblick auf seinen grandiosen Titel auch als Mentalitätsmonster. „Da kommt der Karl aus der Kiste und macht hier den Weltmeistertitel“, war Bundestrainer Stefan Horngacher fassungslos nach diesem WM-Märchen von Planica: „Großer Respekt vor ihm, wie er das gemacht hat.“ Im Teamwettbewerb gab es für Geiger und seine Kollegen am Sonntag noch Silber.

Für seinen trockenen Allgäuer Humor, auch für den ist Karl Geiger bekannt. Normalerweise ist er Fachmann für die nicht ganz so großen Schanzen, deshalb kommentierte er sein Meisterstück vom Samstag in den sozialen Netzwerken auch mit einem Augenzwinkern. „Unglaublicher Tag! Kleinschanzen-Karle wird Skiflug-Weltmeister“, tippte er ins Instagram-Forum. Doch nach seiner unfassbaren Flugshow waren natürlich auch Emotionen im Spiel. „Da kommen so viele Gefühle hoch. Ich bin einfach bloß überwältigt, dass mir das gelungen ist“, sagte Karl Geiger nach dem WM-Wunder.

Unglaubliche Sätze

Wie er das gemacht hat? Gute Frage. Diese Goldmedaille verdiente er sich mit Sätzen von 240,5 und 231,5 Metern, am Vortag schon brachte er sich mit Flügen von 241 und 223,5 Metern in eine ausgezeichnete Position. Zum Krimi gereichte die Darbietung allerdings, weil sich auch der Norweger Halvor Egner Granerud in Topform präsentierte. Nach Geigers letztem Sprung warteten die Kontrahenten auf das Ergebnis, und sie stellten sich wohl beide die Frage: „Herrgott, geht es nicht schneller?“ Fast zwei Minuten ließ sich die Jury Zeit, um das Urteil über Gold oder Silber zu fällen, es war kaum auszuhalten. Am Ende hatte Geiger mit überschaubaren 40 Zentimetern Vorsprung gewonnen. Der Deutsche brüllte seine Freude in den Himmel über Planica, während Granerud sein Gesicht vergrub – und am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre. Silber war an diesem Tag kein Trost – es war die denkbar größte Niederlage.

Nach seinem Erfolgsrezept gefragt, wusste Geiger nicht recht, was er antworten sollte. Es fielen Wörter wie „Entschlossenheit“ und „Willenstärke“, Dinge, die nicht nur beim Skifliegen wichtig sind, sondern überall im Leistungssport. Dann ging er doch noch ins Detail. „Ich begebe mich da in einen Tunnel hinein, und wenn’s drauf ankommt, dann drücke ich drauf, und dann riskiere ich Vollgas. Wenn man voll riskiert, kann das natürlich auch in die Hose gehen – aber meistens geht es gut“, erklärte Geiger, und man wurde den Eindruck nicht los: Es ist ganz einfach.

In Ruhe Vater werden

Den letzten Skisprung-Weltcup vor der WM haben sie dem Bayern erspart. Er sollte nach Hause zu seiner Frau gehen und in Ruhe Vater werden, es gibt Wichtigeres als den Sport. Man habe ihm bei der Entscheidung allerdings auf die Sprünge helfen müssen, meinte Horngacher, sonst hätte er sich daheim wohl gar nicht blicken lassen. Geiger war hin- und hergerissen. Er war dann zuhause – doch der Nachwuchs kam nicht. Also trat er emotional aufgewühlt bei der Skiflug-WM an, um dort in diesem Zustand die Flüge seines Lebens zu machen.

Karl Geiger ist 27 Jahre alt. Seine ersten Gehversuche im Weltcupzirkus waren zaghaft. So richtig aufgegangen ist sein Stern am 15. Dezember 2018, als er in Engelberg sein erstes Einzelspringen gewann, fünf weitere Siege folgten. Im Mannschaftswettbewerb und im Mixed holte er bei der Nordischen Ski-WM 2019 in Seefeld zwei Goldmedaillen, dazu gab es Silber im Einzel von der Großschanze. Bei der vergangenen Vierschanzentournee beeindruckte er mit dem dritten Platz im Gesamtklassement.

Eigentlich hatten die Experten in Planica Karl Geigers Teamkollegen Markus Eisenbichler als großen WM-Favoriten ausgemacht. Der wurde beim Sieg seines Zimmerkollegen in Corona-Zeiten Dritter. „Ich gönne es ihm von Herzen“, sagte Eisenbichler über den Triumph des Kumpels, „da ist es mir scheißegal, ob ich da jetzt Dritter, Vierter oder Fünfter geworden bin. Ich freue mich wirklich mega.“

Gut gebrüllt

Bei der Siegerehrung brüllten die zwei Bayern dann gemeinsam noch einmal ihre Freude heraus – fürs Foto mit den Medaillengewinnern. Das alles spielte sich vor leeren Rängen ab. Die geisterhafte Atmosphäre hatte im Prinzip ja auch etwas Positives, denn Karl Geiger hat so den letzten fulminanten Sprung des Norwegers Granerud gar nicht richtig mitbekommen – es gab ja keinen Jubel.

Und so flog er zu Gold und befand sich ganz im Glück: „Diesen besonderen Tag werde ich niemals vergessen – vor allem wegen der besonderen Umstände.“