Vor 150 Jahren haben die Niederlande die Sklaverei abgeschafft. Doch eine der grausamsten Geschichten, der Mord an 664 Gefangenen an Bord der Leusden, wurde nie erzählt. Eine Ausstellung in Amsterdam traut sich an die Wahrheit.

Amsterdam - Die Stimmen der Vergangenheit hängen im Raum wie ein Fluch. „Mama, ich habe Hunger“, sagt ein Kind. „Warum helfen die Männer uns nicht?“, fragt es, während die Schreie im Hintergrund immer lauter werden. „Warum machen die das?“ Leo Balai hat fünf Jahre lang eine Antwort darauf gesucht und keine gefunden. Nachdenklich schaut der Mann aus Suriname durchs Fenster auf den alten Amsterdamer Hafen.

 

Ein Dreimaster liegt dort. Es ist der Nachbau eines Schiffes, das den Namen der niederländischen Hauptstadt trug und vor der englischen Küste unterging. Das macht das Replikat nicht weniger imposant. Gut 40 Meter lang kündet der Schoner mit der kunstvoll verzierten Neptun-Figur am Heck von einer Zeit, die sie in Holland das Goldene Zeitalter nennen. Im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts florierte der Handel, die Künste erblühten. Zu Rembrandts ehemaligem Wohnhaus sind es fußläufig nur wenige Minuten.

Wer nicht vom Glanz dieser Epoche, sondern von deren düsterer Seite erfahren will, bewegt sich am besten nicht fort. Im Schifffahrtsmuseum, einem alten Lagerhaus mitten auf dem Wasser, erzählen sie zurzeit eine Geschichte aus dieser Zeit, die so gar nichts Glorreiches an sich hat. „Das dunkle Kapitel“ steht über der Holztür, die in die Ausstellungsräume führt.

Recherchen im Nationalarchiv von Den Haag

Aufgeschlagen hat es Leo Balai. Der heute 67-Jährige stößt Ende der neunziger Jahre zufällig auf die Doktorarbeit von Johannes Postma über die niederländische Beteiligung am Sklavenhandel über den Atlantik. Ein kurzer Absatz behandelt eine große Tragödie an Bord eines Schiffes, ohne Details zu nennen. Balai will mehr darüber wissen, was sich vor der Küste seiner südamerikanischen Heimat abgespielt hat und steigt immer wieder

Die Schau über den Sklavenhandel im Schifffahrtsmuseum hat eine auffällige Optik. Foto: Photo Republic/Bibi Neuray
hinab in die Keller des Nationalarchivs von Den Haag. Abertausende vergilbter Seiten hat er umgeblättert, das Altniederländische in den Büchern lesen gelernt und hin und wieder geflucht, dass es kein Register, geschweige denn eine automatische Suchfunktion gibt. So dauert es, bis Balai findet, was er gesucht hat: das Logbuch der Leusden. Der handschriftliche Bericht der Crew offenbart eine unglaubliche Geschichte.

Am ersten Tag des Jahres 1738 klart das Wetter nach einem Sturm auf. Sechs Wochen nachdem es den Hafen von Elmina im heutigen Ghana verlassen hat, taucht vor dem Schiff aus dem sich verziehenden Nebel die Küstenlinie Südamerikas auf. Die Leusden, benannt nach einem Flecken in der Nähe von Utrecht, ist schon zum zehnten Mal hier, jeweils mit Hunderten Sklaven an Bord, eingepfercht in den unteren Decks. „Manche Leute sagen Sklaven“, hakt Leo Balai gleich ein, „ich nenne sie lieber Gefangene.“ Für den Kapitän hat diese Überfahrt dagegen nichts von trauriger Routine. Der Norweger Jochem Outjes führt, da er kurzfristig den gestorbenen Vorgänger ersetzt, erstmals das Kommando. Mehr als 600 Menschen werden seine Unerfahrenheit mit dem Leben bezahlen.

Statt auf den Suriname River zuzuhalten, das Ziel der Reise, biegt er etwas zu früh ab. Er steuert den Fluss Maroni an und direkt auf eine der vielen Sandbänke zu, die bei Flut nicht zu sehen sind. Ein Wendemanöver scheitert, der Rumpf streift an einer flachen Stelle den Boden, das Ruder wird weggerissen, Wasser dringt ein. Der Kapitän lässt die Masten kappen, damit das Schiff nicht weiter kippt. Die Leusden stabilisiert sich, läuft aber langsam voll.

Die Decke senkt sich tief auf die Besucher herab

Wie es unter Deck aussieht, haben die Amsterdamer Ausstellungsmacher in einem beklemmend engen Raum darzustellen versucht. Er ist dunkel. Das wenige rote Licht strahlt die schrägen Holzplanken an, die den Schiffsrumpf bilden. An den Wänden ist ein Regal neben dem anderen angebracht, um möglichst viele Gefangene übereinander zu stapeln – „Schlafkoje“ ist ein zu feines Wort dafür. Dabei haben es die Museumsbesucher vergleichsweise komfortabel. „Aufrecht stehen konnte

Unter Deck ist es eng und dunkel.
damals sicher niemand“, sagt Leo Balai, als er durch die Ausstellung führt, die auf seiner Doktorarbeit über die Leusden und den niederländischen Sklavenhandel basiert. Die Decke senkt sich dennoch tief auf die Besucher herab, weil Hunderte Zettel von ihr herunterhängen. Die Nummern der Toten stehen darauf. Ihre Stimmen, die aus den Lautsprechern kommen, sind ganz nah: „Uns eint nur die Angst.“

Das rettende Ufer ist eigentlich nicht weit, doch es passiert etwas Schreckliches. Leo Balai zeigt nach oben. Durch eine Ladeluke in der Decke scheint Tageslicht zu dringen – doch für die Gefangenen ist der Weg hinaus versperrt. „Darauf“, berichtet Balai mit Blick auf die Luke, „saßen sie.“ Die Seeleute hatten den Zugang blockiert.

In den Dokumenten, die der forschende Rentner dem Vergessen entrissen hat, ist genau beschrieben, was die Leusden für die Niederlande zum Schiff der Schande werden lässt. 150 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei ruft es eindringlich deren Unmenschlichkeit in Erinnerung. Bei der Ausstellungseröffnung hat der holländische Vizepremier Lodewijk Asscher gesagt, „beim Blick zurück auf diesen Schandfleck unserer Geschichte empfinde ich tiefe Reue“. Manchen in der surinamesisch-niederländischen Community reicht das nicht. Einige Interessenverbände fordern eine offizielle Entschuldigung von König Willem Alexander und Reparationszahlungen. Neue Nahrung erhalten diese Appelle durch den jetzt bekannt gewordenen Massenmord auf der Leusden.

Der Kapitän gab den Todesbefehl

Warum der Kapitän den Todesbefehl gegeben hat, ist Leo Balai auch nach mehrfachem Lesen des „Unfallberichts“ für die West-Indische Compagnie als zuständiger Reederei nicht klar geworden. In dem in der Ausstellung zu sehenden Bericht steht, die Schiffsmannschaft habe um ihr eigenes Leben gefürchtet, wenn sie die Sklaven an Deck gelassen hätte. „Vielleicht sollte die Ware auch einfach niemand anderem in die Hände fallen“, überlegt Leo Balai. Der Kapitän jedenfalls ordnet an diesem Neujahrstag 1738 an, die Luken zuzuzimmern. Es ist das Todesurteil für 664 Menschen, der sprichwörtliche Sargnagel.

Im Frachtraum der Leusden steigt das Wasser immer weiter. In Todesangst stemmen sich die afrikanischen Gefangenen gegen die Luken. Immer wieder treiben die Seeleute neue Nägel ins Holz. Am Ende setzen sie sich auf die Ladeluken, damit sie von innen garantiert nicht mehr geöffnet werden können. Im Bericht, den der Kapitän nach der Rückkehr in die Niederlande verfasst hat, ist nachzulesen, wie lange es gedauert hat, bis die eingesperrten Männer, Frauen und Kinder erstickt oder ertrunken waren. „Die Crew“, erzählt Balai von seiner Recherche, „hat die ganze Nacht lang die Luken zugehalten und den Menschen beim Sterben zugehört, ihre Schreie, ihr Schluchzen ignoriert.“ Als am nächsten Morgen alles still ist, weil der größte Teil der Leusden unter Wasser liegt, steigt die Mannschaft in die Rettungsboote.

Das Wrack der Leusden ist bis heute nicht gefunden worden.
werden – für je 250 Gulden. Eine Anklage kommt niemandem auch nur in den Sinn, stattdessen erhält die zurückgekehrte Crew eine Belohnung, weil sie den 23 Kilogramm schweren Goldschatz an Bord hat retten können. Die öffentliche Debatte kreist nur um die Frage, wie hoch die Belohnung angesichts des finanziellen Schadens sein darf. „Das Ganze“, sagt Leo Balai, „ist als rein ökonomische Katastrophe behandelt worden.“

Die getrennten Welten unter und auf Deck sind das zentrale Thema der Ausstellung im Schifffahrtsmuseum gegenüber dem früheren Standort der Werft, wo die Leusden als einer von 192 niederländischen Sklaventransportern vom Stapel lief. „Wir wollten beide Erfahrungen der damaligen Zeit aufeinanderprallen lassen“, sagt Sarah Bosmans, die Kuratorin, „die der Opfer und die der Profiteure des Sklavenhandels“. Wer im „Frachtraum“ die flehenden Stimmen vernommen hat und im nächsten Saal, einem geschäftigen Reedereibetrieb, die Aussagen des Kapitäns liest und einen Amsterdamer Arzt sagen hört, dass eine medizinische Versorgung und körperliche Ertüchtigung der Sklaven nötig sei, um den Wertverlust während der Überfahrt zu begrenzen, versteht, was sie meint. Zwangsweise, so liest der Besucher, mussten die Gefangenen tanzen, um fit zu bleiben.

Wie haben so viele Menschen auf dieses Schiff gepasst?

Leo Balai geht es nicht um seine Wurzeln, wo doch auch seine Vorfahren aus Afrika über den Atlantik geschifft wurden. „Ich bin einer, der versucht, aus dem Hier und Jetzt das Beste zu machen“, sagt der Mann, der Ende der sechziger Jahre aus der Kolonie Niederländisch-Guyana kam, die erst 1975 zu Suriname wurde. Mit dem heutigen Präsidenten, den er einen Diktator nennt, hat Balai als junger Kerl zusammen auf derselben Zuckerrohrplantage geschuftet. „Ahnenforschung interessiert mich nicht. Ich will wissen, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun konnten.“ Er blickt wieder hinaus auf die Amsterdam. „Und ich verstehe nicht, wie auf ein Schiff, das kleiner war als das hier im Hafen, fast 700 Menschen passen konnten.“

Antworten soll das Wrack der Leusden liefern. Leo Balai und sein Team von der Universität Plymouth haben mit einem Metalldetektor das Flussdelta des Maroni River abgesucht haben. Zwölf Kanonen hatte die Leusden an Bord – und die hat Balai möglicherweise auch entdeckt. „Irgendetwas ist da unten.“ Im nächsten Frühjahr will er mit mehr Gerät und mehr Forschern zurückkehren. Oder sollte man sie besser Ermittler im größten Mordfall in der Geschichte der Sklaverei nennen? „Wir haben mit der Suche nach der Leusden begonnen“, sagt Remmelt Daalder vom Schifffahrtsmuseum, das dafür Geld bei der niederländischen Regierung lockergemacht und einen Ausstellungsraum in der Optik der US-Krimiserie CSI eingerichtet hat, „und untersuchen die Vorgänge auf dem Schiff jetzt als Verbrechen.“

Schifffahrtsmuseum Die Ausstellung „Das dunkle Kapitel“ über das Sklavenschiff Leusden läuft bis Ende August 2014 in Amsterdam.