Seit Donnerstag campen in der Stuttgarter Innenstadt Sneaker-Sammler für die neueste Kreation von Rapper Kanye West mit Adidas. Woher kommt eigentlich die Faszination für Sneaker?

Stuttgart - Seit vergangenen Donnerstag ist mitten in Stuttgarts Innenstadt ein Zeltlager errichtet worden. Doch keine Angst, es ziehen keine Rauchschwaden über den Kessel, denn diese Camper sind kein Teil einer möglicherweise ausufernden Blockupy-Bewegung. Diese zumeist jungen Leute verfolgen ein anderes Ziel: Den Adidas Air Yeezy 750 Boost, die neueste Kreation von Rapper Kanye West mit Adidas. Ein Schuh, der stark limitiert und zu einem empfohlenen Verkaufspreis von 350 Euro an diesem Donnerstag im Foot Locker Stuttgart verkauft wird. Einige Exemplare wurden bereits vor wenigen Wochen in Frankfurt, Köln und Berlin angeboten, davor gab es im Rahmen der Fashion Week in New York die Möglichkeit den begehrten Schuh über eine App zu ergattern.

 

Doch woher kommt dieser Ehrgeiz mehrere Nächte vor einem Laden zu schlafen um dann einen Schuh zu kaufen? Es verhält sich bei Turnschuhen ähnlich wie bei anderen Design- oder Lifestyle-Produkten: Sie werden beworben und je nach Thema und Modell bei den entsprechenden Händlern angeboten. So weit, so gut. Warum aber Turnschuhe? Weil Turnschuhe ebenso ein Lebensgefühl ausdrücken, man sich über sie definieren kann und weil es einfach so viele verschiedene gibt, dass man schnell eine Sammlung anhäuft, ohne es bewusst geplant zu haben.

Das war nie das, was zählt / doch irgendwie lieb ich das

Die Szene in Stuttgart ist stark geprägt durch eine Subkultur, die in den frühen 90er-Jahren starken Anklang in der Stadt gefunden hat: HipHop. Durch die US-Kasernen in Stuttgart und ihre Angestellten und Bewohner, die ihre Kultur in den Süden mitgebracht haben, wuchs hier eine junge Szene heran, die nicht nur die Musik adaptierte, sondern auch die Bewegungen, die Sprache, aber auch die Mode. Was in den 90er-Jahren im US-HipHop bedeutete: Hoodies, Baggy Jeans und Sneaker. Die Stuttgarter HipHop-Band Massive Töne rappt auf ihrem Meilenstein „Schoß der Kolchose“: "Die Halle voller Nikes, Adidas und Filas / ich weiß, das war nie das, was zählt / doch irgendwie lieb ich das.“

Und obwohl man in der Szene niemanden wegen seiner Kleidung außen vor lässt, dient sie zur Identifikation, auch untereinander. Man erkennt sich am Style, auch an den Sneakern. Auch sportliche Idole Anfang der 90er prägen den Style, allen voran Michael „Air“ Jordan, der damals mit seinem eigenen Modell für Nike einen internationalen Siegeszug antritt, ob auf dem Platz für die Chicago Bulls oder in den Läden durch die Verkaufszahlen. Jedes neue Modell wird sehnsüchtig erwartet, fast wie ein neues Apple-Produkt heutzutage. Sobald sie erscheinen, sind sie innerhalb von Minuten ausverkauft. Man spricht nicht nur in den USA von einer Jordan-Manie. Auch in Europa ist sie längst angekommen und die Fans versuchen hier an die Schuhe heranzukommen, was gar nicht so einfach ist und machmal auch eine Tagesreise in ein anderes Land erfordert.

Retro-Modelle erhalten besonderen Zuspruch

Turnschuhe sind überall und werden zusammen mit dem Sportswear-Style die Ära der Streetwear einläuten und auf der ganzen Welt populär machen. Ein kleiner Zeitsprung: In den Jahren nach dem Millenium, nimmt die ganze Sneaker-Geschichte wieder etwas ab. Der Casual Style wird populärer, Schuhe dürfen wieder bequem, aber trotzdem klassisch sein. Man muss sich in ihnen wohlfühlen, aber sie sollen auch im Büro noch durchgehen. Turnschuhe finden sich auf dem Sportplatz wieder, dort wo sie hingehören und natürlich noch bei ein paar Sammlern oder Jugendlichen an den Füßen. Sammler, wenn es sie noch gibt, werden belächelt und gelten als nette Freaks, werden aber nicht ansatzweise ernst genommen oder gar hinterfragt. Mitte der 2000er fängt das Feuer wieder an zu lodern, nachdem die Marken in den vergangenen Jahren gemerkt haben, dass wieder mehr Zuspruch bei Turnschuhen besteht, insbesondere bei sogenannten Retro-Modellen, also Neuauflagen bereits veröffentlichter Modelle. Zusammen mit den „neuen“ sozialen Medien und der Möglichkeit durch Internethandel Leute weltweit zu erreichen, werden die Archive durchforscht und ein „Klassiker“ nach dem anderen wiederaufgelegt. Viele werden sentimental und versuchen sich einen Teil der Jugend zurück zu holen, indem sie sich ihren Traumschuh von damals kaufen.

Die Szene erwacht langsam aus ihrem Dornröschenschlaf und Sneaker gelten wieder als in. Ende 2010 formieren sich dann auch in Stuttgart einige Sammler und stellen Anfang 2011 die erste Sneaker-Veranstaltung auf die Beine. Stuttgart ist somit nicht mehr das kleine, verschlafene Nest auf der Sneaker-Landkarte und muss sich nicht mehr hinter Mekkas wie Berlin oder Köln verstecken. Kicks-N-Coffee, wie sich die Veranstaltung nennt, wird zur Anlaufstelle für Sneaker-Begeisterte und solche, die es noch werden wollen. Gleichzeitg gründet sich nach dem ersten Event der Sneaker Stammtisch Stuttgart, der sich aus den privaten Ausstellern zusammensetzt. Die Szene blüht wieder auf und Stuttgarts erste Sneaker-Boutique wird unter der Leitung von Erdal Ersan im Juni 2012 eröffnet: der SUPPA-Store an der Paulinenstrasse 44. Ab diesem Zeitpunkt wird Stuttgart wieder vermehrt wahrgenommen und die Szene wächst heran.

Sneaker sind wieder gesellschaftsfähig

Neben den Sammlern, die bereits Mitte der 90er aktiv waren, kommen jetzt auch Jugendliche hinzu, die zur neuen Generation gehören. Neue Idole, neue Leitbilder und damit einhergehend auch neue Sneaker-Modelle, Kollaborationen mit Künstlern oder Labels/Läden aus anderen Städten gab es bereits davor, aber nicht in dieser Frequenz. Die Szene besteht also aus jungen Leuten, die den sportlichen Look feiern und inzwischen auch Mit-Dreißigern, die bereits zur ersten Generation der Sammler gehörten. Inzwischen sind es auch Mädels und Eltern, sogar Großeltern, die in Turnschuhen unterwegs sind. Sneaker sind wieder gesellschaftsfähig. Und die sozialen Medien erleichtern die Sache ungemein, ob für den Kunden oder die Marke.

Zurück zu der Frage, was es ausmacht für so einen Schuh zu campen? Im Gegensatz zu einem Iphone sind die Modelle meist stärker limitiert und man läuft tatsächlich Gefahr ohne Schuh da zu stehen, wenn man zu lange wartet, da diese meist nicht wiederaufgelegt oder nachproduziert werden. Zum anderen gibt es bei Sneakern immer noch die Variationen, sei es von der Farbe, den Materialien, Formen oder Themen. Jeder Schuh ist ein kleines Kunstwerk für sich. Und daran erfreut man sich immer wieder, ob man die Schuhe jetzt trägt oder nur zu Hause für sich ins Regal stellt. Ein weiterer Punkt ist heutzutage bestimmt auch, dass manche Modelle durchaus als Wertanlage zu sehen sind. Zumindest wenn man bedenkt was einige ältere Modelle im Originalzustand bei Messen heutzutage an Marktwerten erreichen. Das verhält sich bei Sneakern nicht anders als bei Oldtimern oder sogar Briefmarken. Alt und gut erhalten, möglichst in kleiner Auflage produziert, am besten ungetragen und mit Original-Zubehör wie Schuhkarton, zusätzliche Senkel und Extras zu einem Thema steigern den Wert zusätzlich und sorgen für manchen Wiederverkaufspreis, der auch von einem Kleinwagen stammen könnte.

So gesehen kann man sagen, dass die meisten Leute, die heutzutage für einen Schuh campen, einfach nur einen besonderen Schuh zu ihrer Sammlung hinzufügen wollen, und einige bestimmt auch darauf spekulieren, den Schuh für schnelles Geld wieder loszuwerden. Aber man kann mit Sicherheit behaupten, dass diese Leute die gemeinsame Faszination für Turnschuhe antreibt, sonst hätten sie sich hier nicht zusammengefunden und würden friedlich mehrere Tage mitten in der Innenstadt campieren.