Seit anderthalb Jahren versucht die Soko Weiher, den Fall aufzuklären - ohne Erfolg. Einer, der darunter mit am meisten leidet, ist ihr Leiter, Peter Kegreiß.

Holzgerlingen - Manchmal, wenn Peter Kegreiß unter seinem Birnbaum sitzt, sucht er Zuflucht bei einem Kollegen. Dann schlägt er ein Buch von Henning Mankell auf und liest nach, wie Kommissar Kurt Wallander einen Fall gelöst hat. Kegreiß liebt Wallander, den schwedischen Polizisten, der so gar kein Superbulle ist. Verzweifelt ist der Kollege oft. Immer am Überlegen, ob er nicht aufhören soll, weil er fürchtet, wieder etwas übersehen zu haben. Weil er Angst hat, dem Elend, dem ständigen Wegbegleiter seiner Arbeit, nicht mehr gewachsen zu sein. Und dennoch kehrt er immer wieder zurück, wühlt sich in die Abgründe menschlicher Seelen und fügt sie zu einem Bild, das am Ende den Täter überführt. Manchmal braucht er dazu Jahre.

 

Kegreiß erkennt sich in Wallander wieder. Der Kommissar im Roman, sagt der Echte, "ist ein Mensch mit allen Stärken und Schwächen". Der 45-jährige Holzgerlinger ist das auch. Es ist ihm peinlich, wenn er in der Zeitung mit dem Satz zitiert wird: "Wir haben keine Fehler gemacht." Das klingt so selbstherrlich, so unangemessen großkotzig, nach all dem, was passiert ist. Er sagt lieber "keine gravierenden". Er weiß doch, wie an den Stammtischen im Schönbuch über ihn geredet wird. "Kommissar Fangnix" nennen sie ihn. Die Netten unter ihnen wünschen ihm wenigstens noch den "Kommissar Zufall" zum Gehilfen.

Wie überall, wo Menschen sind, werden Fehler gemacht. Auch bei der Soko Weiher, bei der zeitweise fünfzig Beamte im Einsatz waren. Soll ihr Chef ausschließen, dass bei der Überprüfung von 1240 Hinweisen und Spuren etwas schief gegangen ist, dass ihnen beim weltweit zweitgrößten Speicheltest mit 13.000 Proben einer entwischt ist? Er kann es nicht. Er kann auf den Familienvater verweisen, der sich wie fünfzig andere nicht überprüfen lassen wollte, weil seinem "Bua so was net passiert" und die Polizei ohnehin "bloß unsere Steuergelder verputzt". Hätte er ihn zwingen sollen? Kegreiß hat es nicht getan, nur gefragt, ob wir keine Gemeinschaft mehr seien.

Geblieben ist ein Blutfleck

Was er getan hat, war, die "Maschine" auf Hochtouren zu halten. Die Profiler, Biologen und Mediziner vom Landeskriminalamt, die Gerichtsärzte von Tübingen, bis hin zur Suche über die Fernsehsendung "Aktenzeichen XY". Geblieben ist ihm ein Blutfleck auf Tobias' Kleidern, der vom Täter stammen kann, aber nicht von jenem 16-Jährigen Dennis T. (Name von der Redaktion geändert), in dem sie lange den Täter sahen. Ihn hielten sie für überführt, nachdem er beschrieben hatte, wie die Leiche am 30. Oktober 2000 lag, und in welcher Hand sie das Laub von den Bäumen am Dörschachweiher zusammenpresste.

Aber war das schon ein Geständnis? Reichte das, um ihn zehn Tage später in U-Haft zu nehmen? Der Sonderschüler hatte einen Intelligenzquotienten von unter 60, erinnerte sich schon nach wenigen Minuten nicht mehr daran, was er zuvor erzählt hatte. "Völlig wirr" sei er gewesen, berichten die, die ihn in jener Zeit erlebt haben. Ein Kind aus einer Trinkerfamilie, in der der Vater die Mutter verprügelte, und der Sohn ihre Schreie durch die dünnen Wände seines Zimmers anhören musste. In den Verhören hat er nur "keine Ahnung, keine Ahnung" hervorgestoßen und den direkten Augenkontakt vermieden, wenn er nach den schrecklichen Details gefragt wurde.

War er der Täter? Selbst sein Anwalt Achim Bächle weiß darauf keine Antwort. Er könne nicht in den Kopf seines Mandanten schauen, sagt er. Der Stuttgarter Strafrechtler hatte den Fall von einem Kollegen aus Weil im Schönbuch übernommen, nachdem sich dieser nicht mehr zum örtlichen Metzger getraut hatte. Einen Mörder verteidige man nicht, warfen ihm Bürger der 9600-Einwohner-Gemeinde vor.

Dennis wurde aus der U-Haft entlassen

Bächle ist weniger schreckhaft. Der 51-jährige Jurist hat schon der RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt als Pflichtverteidiger beigestanden, die türkische PKK, den Eiskunstlauftrainer Karel Fajfr und den Nazimörder Josef Schwammberger anwaltlich vertreten. Ihm sei nichts Menschliches fremd, betont Bächle, und der Rechtsstaat heilig, der alle Menschen schütze. Auch um den jungen Dennis hat er sich gekümmert. Er ist zu ihm in den Knast nach Hechingen gefahren, hat ihm Zigaretten besorgt und lange mit ihm gesprochen. Aber ob er's war? Ob er nur am Dörschachweiher herumgestreunt ist, an jenem Montagnachmittag, und dort die Leiche hat liegen sehen? Bächle zuckt mit den Schultern und sagt, unter bestimmten Umständen könnte jeder von uns zum Mörder werden. Der "arme Kerl" sei häufig von zu Hause weggewesen, um seinem "dominanten" Vater zu entfliehen. Schuld oder Unschuld - weder das eine noch das andere ist beweisbar.

Vor 15 Jahren, so viel ist ihm klar, wäre der Junge verurteilt worden. Das Täterwissen, das ihm die Kripo unterstellt, hätte genügt. Aber heute, im Zeitalter feinster DNA-Analysen, ist er entlastet. Die fremde Blutspur bei Tobias ist nicht seine, "und das hat ihn gerettet", erklärt Bächle. Andernfalls hätte er für seinen Mandanten "würgen und kämpfen müssen". Dennis wurde am 12. Dezember 2000 aus der U-Haft entlassen, ist aus Weil im Schönbuch weggezogen, macht inzwischen eine Lehre bei Bosch und ist vor Strafverfolgung sicher. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft arbeitet an der Einstellung des Verfahrens, sie sieht keinen hinreichenden Tatverdacht mehr. Bächle meint, dies gebe dem Jugendlichen die Chance zur Resozialisierung, besser gesagt, zur Sozialisierung.

Sie mussten weitersuchen

Und was sagt Kegreiß? Ihm ist der Hauptverdächtige weggebrochen, von dem sie schon ein Geständnis zu haben glaubten. Er weiß, dass er keinen "objektiven Beweis" gegen ihn hat - und dass er wahrscheinlich auch keinen mehr kriegen wird. Er hat den Jungen verhört, eindringlich aber fair, wie Bächle bestätigt. Verstehen konnte er ihn nicht. "Ich kann nicht nachvollziehen, warum er sich so verhalten hat", bekennt Kegreiß, "ich glaube nur, dass er nicht umsonst eingesperrt war". Doch der Glaube ist nicht gerichtsfest, er spiegelt eher die Ohnmacht wider, im Grenzbereich einer menschlichen Psyche Orientierung zu finden, in der Chaos herrscht. Letztlich war Dennis ein Fall für den Psychiater.

Sie mussten weitersuchen. Nach allen Seiten, wie es im Polizeijargon heißt. Zwei Russen im Mercedes tauchten auf, die sich wenige Tage vor dem Mord nach dem Weiher erkundigten. Sie wurden nie gefunden. Ein 19-jähriger Mann fragte nach dem Grab von Tobias. Kehrte hier womöglich der Täter zurück, wie so häufig in der Kriminalgeschichte? Nein, es war nur ein Schaulustiger, der sich nach der ZDF-Sendung XY als neugieriger Friedhofsbesucher entpuppte. Speichelprobe negativ.

Und wo war das Motiv? Kegreiß weiß bis heute nicht, welchen Sinn der Mord für den Täter hatte. "Ständig fragst du nach dem Warum", sagt der Vater zweier Kinder, "und bekommst keine Antwort." Doch sein Beruf zwingt ihn dazu, im Dunkel dieser Gesellschaft herumzustochern, die ihm so haltlos erscheint. Es müsse doch noch Werte in dieser Welt geben, hofft er. So etwas wie Gerechtigkeit, Friedfertigkeit und Solidarität.

Zwei Schachteln HB am Tag

Vieles scheint ihm wegzuschwimmen, vieles unbegreiflich wie jener Anwalt, der den Speicheltest aus Datenschutzgründen verweigerte. In einem Rechtsstaat müsse niemand seine Unschuld beweisen, erläuterte der Advokat, bis ihn das Stuttgarter Landgericht dazu zwang. Andererseits waren die Sinti und Roma die Ersten am Ort, die zur DNA-Analyse anrückten. Wohlwissend, dass sie die Ersten sein konnten, die verdächtigt würden. "Manchmal", sagt Kegreiß, "verstehst du die Welt nicht mehr."

In solchen Augenblicken voller Zweifel hat er viel geraucht. Zwei Schachteln HB am Tag. Wie sollte er tausende von Puzzlestücken zu einem Bild zusammenfügen, dessen Konturen mehr und mehr verschwanden? Was war geblieben von seinem Ideal vor 29 Jahren, zur Polizei zu gehen, weil sie ihm als Freund und Helfer galt? Das war kein Schmus, das meinte er wirklich so. Wenn er einen 80-jährigen Opa, der hilflos im Wald umhergeirrt ist, den Enkeln zurückgebracht hat, war er "einfach glücklich". Skrupel hatte er, als er zu Studentendemos ausgeschickt wurde, mit Helm, Schild und Knüppel. Nie hat er im Freundeskreis darüber gesprochen, nie erzählt, wo er schafft. "Das ist einer, der Studenten zusammenschlägt" - diese Auseinandersetzung wollte er nicht haben. Bevor der Metzgersohn die grüne Uniform angezogen hatte, trug er die Haare schulterlang und ein Peace-Zeichen.

17.000 Überstunden angehäuft

Wie hält ein Zweifler das aus? Diesen grauenhaften Mord, den alle aufgeklärt sehen wollen. Mutter und Vater von Tobias in erster Linie, die Eltern der anderen Weilemer Kinder, der Polizeipräsident, der Justizminister, die Öffentlichkeit. Der Druck wurde größer, mit jedem Tag mehr nach der ruchlosen Tat. "Rollen jetzt Köpfe?" Auch mit dieser Schlagzeile der "Bild"-Zeitung musste Kegreiß leben, nachdem die erlösende Erfolgsnachricht immer unwahrscheinlicher wurde. Wen interessierte, dass seine Soko 17.000 Überstunden angehäuft hatte? Debattiert wurde oft über die Kosten von 500.000 Euro.

Kegreiß hat es mit Arbeit versucht. "Solange du agierst", meint er, "hast du keine Chance, die Katastrophe an dich heranzulassen". Nur so kann er die Bilder vom Dörschachweiher verdrängen, die Gefühle ausschalten, der Logik des Verstandes vertrauen. "Sonst", sagt er, "frisst's dich auf." Doch abends nimmt er die Bilder mit nach Hause, wo er über den Fall nicht spricht. Seine Frau und die Kinder sollen unbehelligt bleiben, aber der Schonraum funktioniert nicht, weil ihn das Fernsehen längst durchbrochen hat.

Der Kommissar sieht müde aus

"Papa, zeig mir deine Pistole", verlangt sein Sohn von ihm. Er hat den Vater am Bildschirm entdeckt. Was soll er dem Kind erklären? Dass das nicht wichtig ist und ihm fast das Herz stehen bleibt, wenn sein Bub vor der Haustür unter einem Busch liegt. Bewegungslos. Er hatte Verstecken gespielt, wollte nicht bemerkt werden. Sollte er ihn bitten, nie wieder Verstecken zu spielen? Sein Sohn ist elf, so alt wie Tobias war, als er umgebracht wurde. Es ist die Welt des Verbrechens, die einen wie ihn nie loslässt. In der nichts mehr harmlos ist, der Schrecken hinter jeder Ecke lauert. "Manchmal denke ich", sagt Peter Kegreiß, "ich lebe in einer anderen Welt."

Müde sieht er aus, der Kriminalhauptkommissar mit dem grauen Bart, und älter, als er ist. Die Jeans und der offene Hemdkragen machen ihn nicht jünger. 17 Monate haben er und seine Kollegen an dem Fall gearbeitet, um am Ende eine Blutspur zu haben, deren Verursacher sie nicht kennen. Bis zu 16 Stunden am Tag. Nichts wollten sie dem Zufall überlassen, nichts ausschließen - und sei es auch noch so absonderlich. Auf einem der unzähligen Aktenordner im Böblinger Polizeipräsidium steht "Satanismus und Okkultismus". Es hätte ja ein Ritualmord sein können, letztlich deutete aber nichts darauf hin. Wieder eine Spur weniger.

Ist es da verwerflich, ein Zeichen von Schwäche, wenn sich einer fragt: Warst du der Richtige? Hast du dir zu viel aufgebürdet? Bist du ausgebrannt? Brauchst du eine Auszeit? Sollst du den Bettel hinschmeißen?

Der Wallander von Böblingen spricht diese Fragen noch ins Offene, schiebt die Antworten mit kleinen Fluchten noch hinaus. In der Stuttgarter Staatsgalerie sucht er Ruhe, beim Betrachten der "Blauen Pferde" von Franz Marc, die sich stark und entschlossen zeigen, aber mehr dem Himmel als der Erde zugewandt. Oder vor dem Herrenberger Altar des Malers Jerg Ratgeb, dessen Vögel zur Tugend mahnen und vor dem Laster warnen. Es sind kurze Momente des inneren Friedens, die er braucht, um die Kraft zum Weitermachen zu finden.

Nein, er will nicht aufgeben. Auch jetzt nicht, wo die Soko Weiher eigentlich nicht mehr existiert. Eine Hand voll Beamter arbeitet die übrig gebliebenen Spuren noch ab, in Kürze wird der Fall Tobias in den normalen Böblinger Polizeialltag übergehen. Doch solange er das Gefühl hat, dass der Täter "noch in der Nähe ist", will er weiter ermitteln, die Hoffnung nicht fahren lassen. "Bei Wallander hat's auch immer eine glückliche Wende gegeben", sagt er und lächelt tapfer.