Das Stuttgarter Fest der Weltmusik hat begonnen – mit sanften Elogen aus Tunesien, Explosivem aus Frankreich und wilden Klängen aus Rumänien.
Stuttgart – Das gibt es wirklich: dass man Musik zu verstehen glaubt, obwohl man der Sprache nicht mächtig ist, die sie transportiert. Emel Mathlouthi beispielsweise kommt aus Tunesien, singt auf Arabisch und tut das so inspiriert und intensiv, dass man den Eindruck hat, es ginge um ihr Überleben. Zu den Sanftheitselogen von Gitarre, Geige, Percussion und ein bisschen Elektronik interpretiert sie die Rolle der Frau im weißen Sommerkleid sehr entschieden – nämlich mit gefletschten Zähnen. Ein starker, verstörender Auftritt zum Auftakt des Sommerfestivals der Kulturen auf dem Stuttgarter Marktplatz.
Dann treibt einen der Regen vielleicht vor das Schaufenster des Kaufhauses Breuninger, und dort denkt man sich vielleicht, dass das 1250-Euro-Sommerkleidchen von Dolce & Gabbana auch nicht schöner aussieht als die Trachten der Besucher auf dem Marktplatz. Afrikanisches sieht man dort, Asiatisches – und auch, dass Europa deutlich größer ist als die EU. Auch deshalb ist das Sommerfestival unverzichtbar: Weil es auch denen eine Bühne für ihr kulturelles Selbstbewusstsein bietet, die im eurozentrierten Wahrnehmungszirkus immer nur als Bittsteller vorkommen dürfen.
Und wegen der Musik natürlich: in der flirrenden Weltenshow von Babylon Circus aus Lyon begegnen sich am Auftaktabend Reggae, Ska und Rap, Osteuropäisches und Französisches, Ausbruch und Melancholie. Aus der Kraft der Bereicherung macht diese Band eine hochexplosive Melange.
Halsbrecherische Haarnadelkurven
Die italienische Songwriterin Piera Lombardini, die den zweiten Festivaltag eröffnet, zehrt von derselben Kraft: Sie verankert mit ihrer Band die musikalischen Traditionen Süditaliens in modernen Beats. Tamburin trifft Tagesaktualität, und über allem schwebt eine Leidenschaft, die einerseits völlig zeitlos ist und andererseits dort verortet, wo das Herz schlägt.
Aber auch das ist Weltmusik: die unverfälschte, ungezähmte Wildheit, die das kleine Orchester Taraf de Haïdouks aus dem rumänischen Dorf Clejani seit zwanzig Jahren weltweit präsentiert. Dieses Orchester ist ein Ereignis – Zigeunermusik im reichsten Sinne. Mit völlig unaffektierter Virtuosität treibt das energische Dutzend seine Musik durch halsbrecherische Haarnadelkurven. Im Geschwindigkeitsrausch jagen sich Geigen und Flöten, der Kontrabass klappert, das Akkordeon blökt, der zweite Festivaltag endet mit einer kollektiven musikalischen Meisterleistung ganz nahe an der Ekstase. Auch das kann gute Weltmusik: den Hörer gleichzeitig erden und ihn aus der Welt saugen.