Der Spaziergang mit Fredi Bobic durch den Hallschlag in Bad Cannstatt wird zu einer Zeitreise in seine Kindheit und Jugend – im StZ-Gespräch erinnert sich der VfB-Manager an Hansi-Müller-Poster in seinem Kinderzimmer, die Wildnis vor den Hochhäusern und an eine Blechtröte seines Vaters.

Stuttgart - Im Schatten eines Hochhauses öffnet Fredi Bobic die Tür zu einem Bolzplatz. Von einem nahe gelegenen Spielplatz weht Kindergeschrei herüber, Fredi Bobic prüft die Torstangen, er kennt den Ort genau, auch wenn sich der Bolzplatz im Laufe der Jahre verändert hat. Der 41-Jährige ist im Hallschlag aufgewachsen – das Cannstatter Viertel wurde für viele Einwanderer, die nach Stuttgart zogen, zur neuen Heimat. Auch für die Eltern von Fredi Bobic, der hier seine Kindheit verbrachte. Im StZ-Gespräch redet Bobic über seine Wurzeln.

 
Herr Bobic, der Bolzplatz, neben dem wir hier sitzen, sieht aus, wie ein Trainingsplatz für die Generation Nintendo. Sie haben hier als Junge schon gespielt, erkennen Sie den Platz überhaupt wieder?
Ganz ehrlich: kaum noch. Heute hast Du hier einen gelenkschonenden Boden und schallgedämpfte Zäune, für die Kids ist das natürlich super. Als ich hier gekickt habe, war das noch ein normaler Bolzplatz mit einem Betonboden voller Löcher, und wenn der Ball gegen den Zaun geflogen ist, haben es die Nachbarn auf jeden Fall gehört. Wir waren echte Straßenfußballer.
 
Als Kind waren Sie schmächtig, der Hallschlag hat eine raue Seite. Welche Rolle hat der Fußball damals für Sie gespielt?
Der Fußball war alles für mich. Als Kind oder als Jugendlicher musstest du dich hier durchsetzen. Viele Kämpfe wurden damals auf dem Fußballplatz ausgetragen, das war mein Vorteil. Ich habe nie zu denen gehört, die Krawall gesucht haben, aber ich bekam dennoch oft Schläge angedroht und auch mal eine verpasst. Aber meistens haben mich die Jungs geschützt, mit denen ich in einer Mannschaft war – ich musste für die ja vorne die Tore machen.
 
Der Hallschlag machte zwischenzeitlich als Krawallschlag von sich reden.
Ab und an gab es auch mal Stress, und das ist heute wahrscheinlich genau so. Aber ich habe das nie als so negativ empfunden. Ich musste hier schon früh lernen, mich durchzusetzen. Meinen Kumpels und mir wurde nichts geschenkt. Wir mussten uns etablieren, ohne dabei Stress zu bekommen und auf die falsche Bahn zu geraten.
 
Wie lief es für den jungen Fredi Bobic abseits des Bolzplatzes in der Schule?
Wenn Du in der Schule zu gut warst, war das hier im Hallschlag nicht gerade aktuell unter den Jungs. Also habe ich geschaut, dass ich halbwegs ordentlich durchkomme. Ich war immer ein klassischer Dreier-Schüler, dem der Sport extrem wichtig war, die Schule lief für mich gefühlt nebenher. Die Streber bekamen dann eher Probleme im Viertel, die waren schnell verschrien. Jeder hatte hier in der Gegend seinen Stempel: Der eine war der Fußballer, der andere der Klopper, der das Faustrecht nutzte, um sich vor den Mädels aufzuspielen.
 
Und wie tickten Sie?
Bei den Mädchen war ich nicht so früh dran, ich war eher schüchtern. Als Kind war das Leben für mich hier im Hallschlag ein großer Abenteuerspielplatz. Wir sind in den Garagen unter den beiden großen Hochhäusern rumgerannt oder haben um die Ecke in der Zuckerfabrik gespielt. Hinter den Hochhäusern lag für uns die Wildnis – die Straße, die dort heute entlang führt, gab es damals noch nicht. Ich war in einer Clique, in der Kinder aus vielen Nationen waren. Ich war der Jugo, damals besaß ich noch einen jugoslawischen Pass.
 
Spielte die Herkunft unter ihren Freunden damals eine große Rolle?
Eigentlich selten. Die türkischen Jungs waren irgendwie oft für sich, zu denen hatte ich damals weniger Kontakt. Mit den Spaniern, Italienern oder Portugiesen war es leichter, vielleicht, weil sie meiner Kultur näher standen. Aber auf dem Bolzplatz war die Nationalität ohnehin nebensächlich. Ich habe mich über den Fußball definiert und durch ihn Anerkennung und Selbstvertrauen bekommen.
 
Sie sind in dem Hochhaus direkt nebenan aufgewachsen. Ihre Mutter ist Kroatin, ihr Vater Slowene – sie mussten in Stuttgart ganz von vorn anfangen.
Die beiden sind 1968 unabhängig voneinander nach Stuttgart gekommen. Sie haben sich in Untertürkheim kennen gelernt, bei einer – Disco kann man dazu wohl nicht sagen – also bei einer Tanzveranstaltung, bei der sich viele Jugoslawen getroffen haben. Meine Eltern sind beide beim Daimler untergekommen, mein Vater hat als Schlosser gearbeitet, meine Mutter war im Lager beschäftigt. Nächstes Jahr geht sie in den wohlverdienten Ruhestand. Die Hochhäuser im Hallschlag waren regelrechte Daimler-Türme. Dort lebten viele Daimler-Mitarbeiter, die meisten waren Ausländer.
 
Luxus war für Sie ein Fremdwort.
Stimmt, aber das war kein Problem. Hier gab es einen Friseur, der für zehn Mark die Haare geschnitten hat, aber meistens hat das bei mir meine Mutter erledigt, ist ja klar. Wenn das Geld fehlt, musst du kreativ sein, das war für mich normal. Für meine Eltern war es nicht immer einfach. Mein Vater hat 36 Jahre am Band gearbeitet und geschichtet, da musst du als Kind mit dem klarkommen, was du bekommst. Wenn ich mal neue Fußballschuhe bekam, war das für mich das Größte. Ich habe meine Eltern so lange genervt, bis sie mir endlich welche gekauft haben.

Können Sie sich noch erinnern, wie Ihre Wohnung aussah?
Ich glaube, die hatte dreieinhalb Zimmer. Ich hatte ein super Zimmer, in dem ich allein der Pascha war, bis sieben Jahre später meine Schwester auf die Welt kam. Dann war es mit meiner Alleinherrschaft vorbei.

Welche Poster hingen in Ihrem Zimmer?
Auf jeden Fall eines von Hansi Müller, ein Puzzle von ihm hatte ich auch. Der war damals der schöne Hansi.
 
Und Sie wollten der schöne Fredi werden?
Nein, Hansi Müller war einfach ein geiler Kicker. Vom Fenster meines Kinderzimmers im elften Stock hatte ich eine großartige Aussicht über das Neckartal. Von dort aus habe ich auch das Stadion gesehen – und vom VfB geträumt.
 
Wenn man die Luftlinie zum Maßstab nimmt, war es gar nicht weit, von Ihrem Bolzplatz zum Profifußball auf der anderen Seite des Neckars. Der Schritt war für Sie vermutlich dennoch gewaltig.
Glauben Sie mir eines: als junger Fußballprofi bist du so naiv und machst so viele Fehler. Du musst unheimlich schnell dazulernen, wenn du nicht untergehen willst. Ich habe vor dem Profifußball meine Lehre als Einzelhandelskaufmann abgeschlossen und wusste, wie es ist, mit 500 Mark durch den Monat zu kommen. Du freust dich, wenn dein Auto abbezahlt ist und dich deine Eltern unterstützen.
 
Und plötzlich kommt das große Geld.
Plötzlich kommt das große Geld, und selbst deine Eltern können dir nur noch bedingt helfen, weil das Fußballbusiness für sie eine ganz andere Welt ist. Ich habe dann auch meine Fehler gemacht, auf die falschen Ratgeber gehört und Geld verbrannt. Von heute auf morgen spielst du in der ganz großen Fußballwelt beim VfB, schießt im ersten Spiel gleich ein Tor und bist schnell Nationalspieler. Vielleicht bin ich kurzfristig auch ein bisschen abgehoben.
 
Wie ist es Ihnen gelungen, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen?
Dafür haben auch meine Eltern gesorgt. Von meiner Mutter habe ich die emotionale Seite mitbekommen, von meinem Vater die Disziplin und Pünktlichkeit. Ich glaube, er ist in seinem ganzen Berufsleben nie zu spät gekommen. Er hatte seine eigenen Methoden, mich zur Pünktlichkeit zu erziehen: Immer wenn es Essen gab und ich abends noch unten kickte, stellte er sich auf den Balkon und blies in eine Blechtröte, die er aus dem Stadion hatte. Das war ein grausames Geräusch. Ich wusste dann sofort, dass ich hochkommen muss.

Als Fußballer prägt einen der Mannschaftsgedanke – was haben Sie davon an den Manager-Schreibtisch mitgenommen?
Im Beruf ist es genau wie in einer Fußballmannschaft: Es gibt die Fleißigen und die Faulen, es gibt die, die sich durchschlängeln und diejenigen, die nie richtig erkannt werden, aber ein riesiges Talent besitzen. In meinem Job brauchst du kommunikative Fähigkeiten und Einfühlungsvermögen. Du darfst nicht nur deinen eigenen Kopf durchsetzen, du musst auch zuhören können und dich in den anderen reinversetzen.

Manchmal hilft Verständnis nicht weiter.
Dann musst du anderen auch Dinge sagen, die einem anderen erst mal weh tun. Aber du darfst den Menschen nicht verletzen. Ich versuche, den Menschen und die Sache voneinander zu trennen – wenn man das nicht macht, begeht man einen Fehler.