eine Sommerserie besteht aus Kleidungs-Stücken. Sie wirft einen Blick auf den Dress und seinen Code.

Auf dem Catwalk moderner Eitelkeiten käme sie nicht in den Modehimmel. Hätte sie wenigstens Stöckelschuhe angezogen: die High-Heels-taugliche Fußhaltung ist das einzige, was der Regensburger Psychologe und Attraktivitätsforscher Martin Gründl Raffaels Sixtinischer Madonna abgewinnen kann. Ansonsten würde die 500 Jahre alte und angeblich schönste Gemäldedame der Welt jeden gegenwärtigen Stilberater zur Verzweiflung bringen. Ihre Leibesfülle steckt in einer ausladenden Hülle, die sich matronenhaft unter dem kindlichen Köpfchen aufplustert. Heute wär’ das ziemlich grauslich, damals war es erst recht erbaulich: Mama-Maße mit Jungfrauengesicht trafen den frommen Sinn, und selbstverständlich bedeckt das Wallegewand die weiblichen Wonnen in den Maria-Signalfarben Blau und Rot. Kleider machen eben Leute – vom Model bis zur Madonna.

 

Dabei folgt die menschliche Verpackungskultur seit jeher diesen Tendenzen. Der Körper wird entweder betont oder verborgen, entweder befreit oder eingezwängt. Einerseits hatte sich Kleidung vom steinzeitlichen Bärenfell bis zur Kluft der Lebensreformer im frühen 20. Jahrhundert, als sich die moderne Freizeitkonfektion anbahnte, in schlichter Funktionalität den Figuren und Bedürfnissen anzupassen. Andererseits pressten Korsettagen, Mieder und andere textile Foltergeräte seit den frühesten Hochkulturen bevorzugt den weiblichen Leib in die Idealmaße der jeweiligen Zeit. Die Verhüllungskunst sorgte nicht nur für artifizielle Fasson, sondern gab der nackten Wahrheit Kleider: Sie verdeckte die Freiheit, Gleichheit, Brüder- und Schwesterlichkeit von Adams- und Evakostüm. Kleidung wurde zum Ausdruck von Hierarchie und Macht, zum Unterscheidungsmerkmal im sozialen Schubladensystem.

Der Rang bestimmte die Kleidung

Die Obrigkeit legte nach Ständen und Zünften fest, was sich die Untertanen leisten durften. Da musste sich keiner vor dem Spiegel quälen mit der Frage: „Was soll ich bloß anziehen?“ Denn nicht der, der einen aus dem Spiegel anblickte, bestimmte die Kleidung, sondern der unsichtbare soziale Rang, den sie sichtbar zu machen hatte. Ob die Ehefrau des wohlhabenden Handwerkers sich einen Zobelpelz leisten konnte oder nicht, war vollkommen bedeutungslos. Tragen durfte sie ihn sowieso nicht.

Erst mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert verkehrte sich der Bekleidungsstil in einen persönlichen Selbstausdruck. Doch wirken die Kleiderordnungen bis heute nach: als Dresscodes, die zwar ihre strenge soziale Verbindlichkeit verloren haben, nicht aber ihre nachweisbare psychologische Wirkung. Krawatte, Anzug und Co. signalisieren beim Investmentbanker nicht anders als beim Staubsaugervertreter Seriosität.

Kleider stellen den Schein vor das Sein

Die Folgerung lautet: wenn der Mensch ist, was er isst, dann ist die menschliche Gesellschaft, was sie trägt. Und das wiederum trägt schon mal einen armen Schlucker in die bessere Gesellschaft hinauf. Weil die Kleidercodes den Schein vor das Sein stellen, bergen sie stets einen Touch von Hochstapelei. Das wirkliche Leben kennt etliche solcher Klamottenkarrieren, die Literatur hat daraus berühmte Exempel statuiert. Dass Kleider Leute machen, darf in Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle ein schüchterner Bursche erfahren, der nur im falschen, nämlich noblen Gewand steckt – und schon wird der Schneiderlehrling im Dorf für einen polnischen Grafen gehalten.

Mit verzweifelter Absicht handelte dagegen der arbeitslose und vorbestrafte Schuster Wilhelm Voigt, dem Carl Zuckmayer ein literarisches Denkmal setzte: Im Bahnhofsklo zieht er sich eine Uniform über, als Hauptmann von Köpenick kehrt er aus dem Abort zurück, und schon ist der Underdog allseits respektierter Befehlshaber. Die Kleidung vollends ihres Illusionseffekts entkleidet hat Hans Christian Andersen in einem seiner berühmtesten Märchen: „Des Kaisers neue Kleider“ sind nur das stillschweigende und allgemeine Einverständnis in eine offenkundige Lüge. In Wahrheit ist der Kaiser nackt.

Am Rockzipfel der Schönheit

Allzu desillusioniert darf man Kleidung allerdings auch nicht betrachten. Schließlich hängt sie am Rockzipfel der Schönheit. Gerade im Unisex- und „Alles-erlaubt“-Zeitalter geht es den Trägern nicht mehr nur um das soziale, sondern zunehmend um das ästhetische Ansehen. Der Dichter und Dandy Oscar Wilde, dem Schönheit über alles ging, fand: „Man sollte entweder ein Kunstwerk sein oder sich mit einem bekleiden.“ Der persönliche Stil wird immer bedeutender. Deshalb machen Leute Kleider. Und deshalb gibt es in den folgenden Wochen: Hülle in Fülle.