Deutschland schaut auf einen Balkon. Sechs Wochen nach der Wahl sind Balustradenbilder die politische Botschaft.

Berlin - Auch auf dem schönsten Balkon kann man schlechte Laune verbreiten. Das weiß die moderne Welt seit 1975. Da traten erstmals Statler und Waldorf ins Leben der jugendlichen Fernsehzuschauer. Zwei alte weiße Männer mit Unterbiss, Haaren in den Ohren und Tränensäcken, die den anderen sagen, was ist – ein Erfolgsrezept historischen Ranges. Seit inzwischen 40 Jahren zerreißen sich die beiden Puppen auf der plüschigen Loggia der „Muppet Show“ das Maul über alles und jeden. Und das Publikum lauscht und lacht.

 

Balkone sind Bühnen, Festungen, Kanzeln. Man kann auf- und abtreten, wie man möchte. Wer drauf ist, der ist oben. Er hat die Übersicht. Jede Geste, sei sie sparsam oder raumgreifend, wird gesehen. Runter kriegt man den da oben nicht so einfach. Das hat Vorteile: Von Brüstungen lässt sich Weltgeschichte verkünden, lassen sich Dinge sagen, die auf Augenhöhe vielleicht nicht unwidersprochen blieben: Kriegserklärungen, Abdankungen, Republikausrufungen, alles schon passiert auf dem Balkon.

Der Auftritt der Mächtigen braucht eine Bühne

Auch im Moment ist wieder viel los da oben: Wenn sich die Berliner Politikkonkurrenten einer möglichen Jamaikakoalition treffen, um darüber zu sprechen, ob aus ihnen in mittelnaher Zukunft eine Vielleichtkoalition werden könnte, dann kommen sie in einem kleinen grauen Palais hinterm Reichstag zusammen. Und das hat einen sehr repräsentativen Balkon. Dicke Säulen laden zum Anlehnen ein, Kristalllüster werfen durch zweiflügelige Türen ihr warmes Licht auf die Balustrade, man kann von hier den Blick schweifen lassen ins Regierungsviertel. Das Palais hat mal dem Reichstagspräsidenten gehört und ist zu Zeiten gebaut worden, als Staatschefs Wichtiges nicht über Twitter loswurden. Der Auftritt der Mächtigen brauchte eine Bühne. Nicht weit von hier, von einem Fenster im Reichstag, rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann zwischen Suppe und Nachtisch vor fast ganz genau 99 Jahren die Republik in Deutschland aus.

Liebknecht schaffte es nur vor den Balkon

Er wusste, was Könige seit Jahrhunderten in ihren Schlössern geübt hatten und bis heute beherzigen: Was man von oben spricht, wird eher als Wahrheit anerkannt. Karl Liebknecht war nicht dümmer, er hatte nur ein bisschen Pech. Scheidemann kam ihm zuvor, und als Liebknecht auf den Balkon des Eosanderportals im Hohenzollernschloss steigen wollte, um die Räterepublik zu verkünden, kam er nicht rein. Ein Lastwagen musste ihm reichen – nicht vom, aber immerhin vorm Balkon.

Dagegen ist der Heilige Vater einfach ein Profi: Der Papst frequentiert für Mitteilungen an die Stadt und den Erdkreis stets die Benediktionsloggia direkt über dem Mittelportal des Petersdoms. Von hier aus ruft auch der ranghöchste Kardinaldiakon seinen jeweiligen Vorgesetzten aus: „Habemus Papam.“

Ähnliches ist zur Stunde in Berlin nicht zu verkünden. Wenn die Sondierer aus Union, FDP und Grünen den Balkon betreten, wird geraucht, gelacht und getuschelt. Und geschwiegen. Solange man sich nicht über Kohleausstieg oder Familiennachzug einigen kann, sind Bilder die Botschaft.

Die Balustradenbilder sind die Botschaft

Wer sticht heraus? Wer lacht mit wem? Wie ist die Chemie? Die Kanzlerin hat schon lange von der Queen gelernt, den weiblichen Konventionsvorteil zu nutzen: mit signalfarbener Oberbekleidung versinkt sie nicht im männlichen Konfektionsanthrazit. Darin ist zum Beispiel der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt inzwischen verschwunden – dabei gab es mal Zeiten, in denen er mit ganz großem Karo seine Präsenz unter den Kandidaten für herausgehobene Aufgaben dokumentierte. Manche politischen Balkonbotschaften entstehen auch zufällig. So geschehen, als die Union noch getrennt mit jedem der kleinen Partner sondierte. Kamen Union und Liberale zusammen, sank die Frauenquote kläglich. Dafür erinnerten die Herrenrundenbilder mit Zigarette und Glas an die „Regieren macht Spaß“-Porträts der rot-grünen Regierung um Gerhard Schröder. Generell scheint man sich inzwischen ein bisschen nähergekommen zu sein. Männer legen Jacketts ab, es gibt Umarmungen, man weiß, wie der andere den Kaffee zu sich nimmt. Manchmal sehen die Bilder der dritten Woche auch aus wie das leicht übernächtigte Nachglühen am Tag zwei eines Familienfestes.

„Bist du bereit für den Weltuntergang?“

Aber der Dauertanz auf dem Balkon ist riskant. Die Dreierkonstellation macht die Sondierungen zum Geduldspiel. „Alberne Balkonpolitik mit immer denselben Winkbildern für die Kameras“, schimpft der schlecht gelaunte SPD-Vize Ralf Stegner. Und trifft damit einen Nerv. Das Bild vom Balkon sendet eine fatale Botschaft. Die der stummen Verhandler hinter der Brüstung, die Stunde um Stunde miteinander verbringen, mehr als 40 Tage nach der Wahl, mit Blick auf ein Parlament, das seit Sommer im Tiefschlaf liegt. Deutschland starrt auf einen Balkon. Das sieht aus wie Zeichensprache für menschenferne Politik.

Oder wie Statler und Waldorf sagen würden: „Bist du bereit für den Weltuntergang? – Ja. Schlimmer als diese Show kann er nicht sein.“ Vom Showgeschäft könnten die Sondierer etwas lernen: eine Balkonszene darf nicht zu lange dauern, wenn sie gut und glaubwürdig sein soll. Evita Perón wusste das. Sie trat – damals als Eva Duarte – im Oktober 1945 hinaus, redete und riss 300 000 Leute mit. Ihr Liebster kam frei. Außenminister Hans-Dietrich Genscher brauchte am 30. September 1989 um 18.59 Uhr auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag 13 Worte, um die Menschen in einen Freudentaumel zu stürzen: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . .“, sagte er. Die Menschen hatten verstanden.

Die beste Balkonszene der Welt ist leise und kehrt der Welt den Rücken zu. Wer zuhört, der kann für einen Moment auf der Liebe leichten Schwingen schweben. In Verona, Via Cappello 23, erster Stock. Aber das ist eine andere Geschichte.