Die "Songs of Marble Hall" haben nach langer Zeit mal wieder den Stuttgarter Marmorsaal mit Popmusik bespielt. Der Freitagabend hatte aber erst ganz am Ende was mit der "Schickeria" zu tun - und zwar ganz anders als erwartet.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Die Location macht das Konzert. Das gilt zum Beispiel für das Feierabendkollektiv, das mal im Zirkuszelt am Killesberg, mal in der Alten Spinnerei in Esslingen aufspielt; es galt für den Club KimTimJim, der noch nach seiner Auflösung in Locations wie den Innenhof des Alten Schlosses oder den Marmorsaal lud, es gilt für die Reihe Bergkonzert (diesen Samstag im Park der Villa Reitzenstein) und es gilt neuerdings für den Verein Art Meets Art, der im Schorndorfer Schloss und, so wie diesen Freitag, wiederum im Marmorsaal im Weißenburgpark aufspielen lässt.

 

Wunderbare Konzepte, denen allerdings immer droht, dass man sich an die Location mehr erinnert als an die Musik. Und dass gerade die Location Publikum anzieht, das sich der eigenen Schönheit und der des Ortes so gern selbst versichert, dass es ganz vergisst, wie sehr ein konstanter Gesprächs- und Geräuschpegel ein Konzert stören kann. Weil für die ersten "Songs of Marble Hall" nicht nur der Marmorsaal, sondern ebendort auch Tapas versprochen wurden und obendrein die für ihre alkoholische Kompetenz bekannte Bar Paul & George die Getränkeversorgung übernimmt - muss man sich den angekündigten "Genussabend" mal anschauen.

Zurück in den Proberaum!

Der Zuschauerbereich im Marmorsaal ist am Freitagabend mit plüschigen Sitzsäcken übersät - Publikumsinseln, um die herum sich die Apéro-Freunde bei einem Schälchen Oliven gesellen, die teilweise schon mehr als zwei Stunden warten, bevor die Sängerin Bajka mit Gitarre auf die Bühne tritt. An deren Konzert wird man sich ganz gewiss erinnern. Bajkas Musik hört sich aufgenommen ganz wunderbar an und eine so natürlich weichgezeichnete Stimme hat man vielleicht seit Pat Appleton (übrigens kommende Woche mit De-Phazz im Bix) so nicht mehr gehört. Das wirklich Bemerkenswerte an Bajka ist an diesem Abend allerdings, dass sie keinen einzigen ihrer Songs zu Ende spielt. Das ist stellenweise charmant, etwa bei einem Blues-Song, weil Blues-Songs ja bekanntlich gern viele Strophen haben - "Und so geht das jetzt immer weiter ..." Bajkas Derangiertheit an diesem Abend mag begründet sein und die vorgetragenen Songfragmente zeigen viel Potenzial auf - aber so sollte man nicht vor ein Publikum treten, das 24 Euro Eintritt bezahlt hat.

Der Singer/Songwriter John Joseph Brill ist, was seine Sicherheit auf der Bühne angeht, so ziemlich das Gegenteil von Bajka. Er kann seine Songs, außerdem bringt er sie mit kräftiger Stimme kraftvoll rüber und traut sich, auch mal kräftiger in die Saiten zu greifen. Damit ist Brill gewissermaßen der lauteste Act des Abends, lauter jedenfalls als die vierköpfige Karlsruher / Berliner Band Walls & Birds, die gegen 23 Uhr auf die Bühne tritt. Mancher ist da schon seit bald fünf Stunden im Marmoorsal, einige haben sich schon gelüftet, aber - Zwischenbilanz und Lob - das Publikum hat bis dato aufmerksam zugehört.

Und es ist ja nicht so, dass sich hier eine, sagen wir, homogene Kunstaka-Zuhörerschaft eingefunden hätte. Stattdessen sieht man Kunstaffine aus Stuttgart und Schorndorf (klar, da kommen die Veranstalter her), die Gruppe Tristan Rêverb (deren Sänger ist Co-Veranstalter) und Tim Kordik (Stichwort Nordbahnhof-Szene) haben Leute mitgebracht; dazu gesellen sich einige Konzert-Dauergäste und erst ganz zuletzt das möglicherweise in diesem Teil Stuttgarts wohnhafte, in weitaus größerer Zahl und von allen Besuchern am besten gekleidete Double-Income-No-Kids-Eventpublikum.

Von Hinterseer bis Lana Del Rey

Wobei - stimmt nicht. Der Walls-&-Birds-Sänger Tillie ist der Bestangezogene an diesem Abend, er läuft klingelnd im Frack durch den Marmorsaal und ruft das langsam etwas gelöstere Publikum wieder zur Aufmerksamkeit. Eine namentlich nirgends genannte und daher auch hier anonyme Sängerin covert Lana Del Rey, während Tillie sich erst ent-, dann mit einem langen Schwarzen wieder ankleidet. Dieses Intro deutet schon an, dass hier kein simples Lieder-Vorspielen zu erwarten ist. Die Performance macht das Konzert? Vielleicht auch das, jedenfalls helfen ein ab und an losgefeuerter Tacker, ein Schnurtelefon und ein Kassettenrekorder, jeweils bedient von der erwähnten Namenlosen, damit auf und vor der Bühne keine Langeweile aufkommt.

Das wäre auch so nicht passiert, denn wer (aufmerksam!) hinhört, entdeckt wunderbar vorgetragene Pastichen - das fängt bei den Dreampop-Bassläufen an, es geht weiter über die fast schon parodistisch eingesetzten Yamaha-DX7-Achtziger-Soundflächen und hört beim als Calypso vorgetragenen "Du hast mich heut noch nicht geküsst" von Roy Black / Hansi Hinterseer nicht auf.

"Schuld war nur der Bossa Nova" lässt die Band zwar aus, dafür gibt es eine herrlich dekonstruierte Version von Spider Murphy Gangs "Schickeria". Dazu noch etwas Queer-Attitüde, Schnurrbart und eine Art Achtziger-Version von The Whitest Boy Alive - fertig ist ein Konzert, an das man sich wahrlich mehr erinnert als an den wunderbaren Rahmen, in dem es stattgefunden hat. Und das nicht nur, weil der Sänger die bei solchen Konzerten obligatorischen Kameraleute anweist, bitte am Bühnenrand zu bleiben, denn "das ist für die Leute, nicht für die Kamera, okay?" Dem ist nichts hinzuzufügen!


Mehr zum Pop in der Region Stuttgart gibt's bei kopfhoerer.fm - auch auf Facebook.