Eigentlich sollte 2020 ein Durchstart-Jahr für Tiemo Hauer werden. Doch coronabedingt hat der Songwriter aus Stuttgart-Degerloch seine Tournee zum neuen Album erst verschieben und dann ganz absagen müssen. Er schreibt neue Lieder voller Empathie.

Degerloch - Ein leidender Mann herzt eine Schaufensterpuppe auf einer Parkbank: Wenn es hilft, den eigenen und den medialen Bildern des Lockdowns künstlerische hinzuzufügen, dann ist dieses aus Tiemo Hauers Video zu seinem Song „Aufeinanderliegen“ ein besonders triftiges. „So lange die Idioten uns entgegenkommen, haben wir sicher den richtigen Weg genommen“, heißt es in dem eindringlichen Lied.

 

Tiemo Hauer (30) hat den Song und die Bilder dazu allerdings vor dem Lockdown im Frühling produziert und auf Youtube hochgeladen. Und den Kurzfilm zu seinem Song „Halb Whisky, halb Mensch“, in dem ein trauriger Songwriter Pizza im Bett isst, hat er bereits im Januar veröffentlicht. Aus heutiger Sicht wirkt es, als hätte sein Verlassenheits-Clip eine stark inspirierende Faszination auf die Filmemacher ausgeübt, die vor ein paar Wochen unter dem Motto „Besondere Helden“ im Auftrag der Bundesregierung mit Kurzfilmen das Zuhausebleiben priesen. „Hab’ das Haus nie so ungern verlassen wie jetzt“, singt Tiemo Hauer zu den Bildern verzweifelter Einigelung nach gescheiterter Beziehung.

Es geht hier wie dort um Einsamkeit, um das Getrenntsein: „Die Pandemie ist ein globales, kollektives Problem, das im übertragenen Sinne eher dafür sorgen könnte, dass man näher zusammenrückt, weil eben alle das gleiche Problem haben. Leider ist es in der Realität nicht so“, sagt Tiemo Hauer am Telefon. Und weiter: „Im Gegensatz dazu ist so eine Trennung ein viel individuelleres Problem, das man mit sich selbst irgendwie klarkriegen muss.“

Sehr viele Leute empfinden jetzt Einsamkeit

Natürlich sieht er die Parallelen: „Es ist eine unbestimmte Zeit, in der man nicht weiß, wann es einem besser geht und wann man wieder so drauf sein kann, wie man es einmal war.“ Seine vor der Pandemie entstandenen Lieder und die Videos, die aus heutiger Perspektive gespenstisch wahrsagerisch wirken, „zeigen ein bisschen, dass ein riesengroßes Problem an dieser Lockdown-Situation ein Einsamkeitsproblem ist“. Was am meisten fehle, sei echte Nähe. Natürlich könne man ein Trennungsvideo produzieren, ohne je einen Lockdown erlebt zu haben, „aber jetzt empfinden diese Einsamkeit sehr viele Leute. Deshalb ist es skurril, das anzuschauen“.

Ihn persönlich haben die coronabedingten Anti-Kontakt-Maßnahmen in mehrerlei Hinsicht hart getroffen: Zum neuen Album mit dem Titel „Gespräche über die Vor- und Nachteile des Atmens“ – den ihm mittlerweile manche übel nehmen, aber der Titel kam vor der Lungenkrankheit – sollte branchenüblich die Tournee im April folgen, aber die wurde zunächst auf den Februar 2021 verschoben und dann dieser Tage komplett abgesagt. „Das bringt mich, wie viele andere, finanziell und mental in eine ganz schön beschissene Lage“, schreibt Tiemo Hauer auf seiner Website.

Das Geld ist das eine: Er hat nicht nur auf die Einnahmen der Tournee spekuliert, sondern auch einen Vorschuss erhalten, um die nötigen Autos und Unterkünfte zu mieten. Den muss er nun zurückzahlen. „Das bricht einem finanziell das Genick“, sagt Tiemo Hauer, „und eine Soforthilfe kam bei mir nicht infrage, weil das ja immer am Vorjahr gemessen wird, aber da hatte ich kein Einkommen aus künstlerischer Tätigkeit“. Der Frust ist das andere: „Man baut vor einer Tour unglaublich viel Energie auf, und dann kann man nichts tun: Man kann die Energie nicht rauslassen.“ Vor zehn Jahren hatte er mal einen Radiohit, „Nacht am Strand“, und in Kritiken wurde seine Stimme mit der von Rio Reiser verglichen. Sie hat etwas sehnend Verwundetes, wie gemacht für kleine Dramen auf großen Bühnen oder große Dramen in kleinen Clubs. „Ich kann keine Ziele formulieren, was Konzerte angeht“, sagt diese Stimme am Telefon.

Die Frau an der Wurtsttheke

Sein Hund helfe ihm, sagt Tiemo Hauer, möglichst viel Regelmäßigkeit in seine Tage zu bekommen, „um nicht den Kopf zu verlieren“. Er versuche, sich zu motivieren, kreativ zu arbeiten, unter anderem in seinem Arbeitszimmer in seinem einstigen Jugendzimmer in Stuttgart-Degerloch, wo er aufgewachsen ist und wo seine Eltern immer noch wohnen, während er in die Innenstadt gezogen ist. Er könne immerhin noch Lieder schreiben, sagt Tiemo Hauer. Musikern in seiner Band oder Licht- und Tontechnikern gehe es noch schlechter: „Für die ist das ein Komplettausfall. Die haben ja nicht nur keine Kohle, sondern auch nichts zu tun. Auch sie müssen sich aufgefangen und gesehen fühlen.“ Er habe Verständnis für die Lockdown-Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, sagt Tiemo Hauer. Aber er findet es nicht fair, dass der Kultur noch weniger gestattet ist als anderen Lebensbereichen. Der Staat müsse Kulturschaffende nun zumindest „auf möglichst unbürokratische Weise finanziell auffangen“.

Mental aufgefangen hat er sich dieser Tage mit einem starken neuen Lied: In der Piano-Ballade „Alle Geschichten“ versöhnt er die Lakonie mit der Empathie. „Sie ist Weihnachten alleine“, singt er zum Einstieg und erzählt dann Kürzestgeschichten von der Frau an der Wursttheke und anderen Gepeinigten im Supermarkt. Ein frappierend entschlossener Blick hinter Masken unter Inkaufnahme der Ansteckung mit Verzweiflung. Das Lied klingt, als hätte Tiemo Hauer einige besonders bittere Variationen des Satzes geträumt, mit dem Bob Dylan in seiner Autobiografie „Chronicles“ seine Großmutter zitiert: „Jeder, den du triffst, kämpft einen harten Kampf.“ Tiemo Hauer hat das Buch noch nicht gelesen. Aber er hat es vor.

Er glaubt auch, dass die Leute vorhaben, irgendwann wieder Konzerte zu besuchen, dass sie „mit Vollgas loslegen“ werden nach der Pandemie, „sofern die Leute, die Konzerte verwirklichen, es durch die Krise schaffen“.