Im Herbst wird ein neuer Hercule-Poirot-Roman erscheinen. Natürlich nicht von der toten Agatha Christie, sondern von der quicklebendigen Sophie Hannah. Der StZ-Autor Rafael Binkowski hat sich mit der britischen Krimiautorin unterhalten.

Stuttgart - Hercule Poirot ist tot. Der belgische Meisterdetektiv aus der Feder von Agatha Christie ist im Roman „Vorhang“ gestorben, er hat sich selbst und den Serienmörder Norton vergiftet, weil er dessen Schuld nicht beweisen konnte. Wie auch Sherlock Holmes im letzten Band musste er sein Leben opfern, um einen intellektuell ebenbürtigen Gegner zu töten. Doch er wird bald wieder auferstehen. Der Buchverlag Harper Collins wird im Herbst 2014 einen neuen Poirot-Roman herausbringen – geschrieben von der englischen Psycho-Kriminalautorin Sophie Hannah.

 

Wo sonst könnte man eine solche Nachricht über einen neun Agatha-Christie-Roman in die Welt setzen als in Torquay in Südwestengland? Hier hat die 1976 gestorbene Autorin gelebt, hier steht noch heute ihr Sommerhaus Greenway, und hier treffen sich jedes Jahr die treusten Fans zu einem Festival, um eine Woche ganz in der Welt von Hercule Poirot und Miss Marple aufzugehen. Und so wird im Grand Hotel von Torquay an einem herrlichen Sonnentag Sophie Hannah der Öffentlichkeit vorgestellt und das ehrgeizige wie umstrittene Projekt „New Agatha Christie“. Die Vorhänge sind aus dunklem Purpur, das Publikum ist im Zwanziger-Jahre-Stil gekleidet.

Zuerst Gedichte, dann Krimis

Eigentlich hat der Verlag die neue Autorin und alle Details zum neuen Werk streng abgeschirmt, aber für einen kurzen Moment hebt sich für die Weltöffentlichkeit der Vorhang. Alle warten gespannt auf die Frau, die auserwählt wurde. Sophie Hannah sieht nicht aus wie eine Heilsbringerin. Sie sitzt lässig im grau gestreiften Pulli auf dem Podium, die Brille ist dick und altmodisch, die Locken sind mühsam gebändigt. Das soll also der geniale Kopf sein, der nach fast 40 Jahren den Mythos wiederaufleben lassen kann? Erst als die 42-Jährige zu reden beginnt, verfliegen die Zweifel im Nu.

Sophie Hannah ist die Tochter einer Kinderbuchautorin, hat in Manchester Spanisch und Englische Literatur studiert. Zunächst hat sie Gedichte geschrieben. Hannahs Bücher wurden mit Preisen überhäuft, 2006 hat sie mit dem Roman „Still, still“ das erfolgreichste Buch auf dem britischen Markt geschrieben. Trotzdem, sind die Erwartungen nicht unerfüllbar hoch? Jährlich werden noch fünf Millionen Christie-Bücher verkauft, es gibt eine loyale Fangemeinde, die fast jedes Buch auswendig nachts im Schlaf rezitieren kann.

Flammende Liebe zu den Werken

Doch dann erzählt Sophie Hannah mit einer Detailtiefe und Passion über das Leben und Werk der Grand Dame der Kriminalliteratur, dass man zu ahnen beginnt, warum sie auserwählt wurde. „Ich habe mein erstes Buch von Agatha mit zwölf gelesen,“, sagt sie. Es war „Die Tote in der Bibliothek“, und sofort war es eine flammende Liebe zu den Werken. „Ich wurde abhängig, und habe jedes gedruckte Wort von ihr gelesen, bis ich 15 war“, erzählt sie weiter. Hannah machte sich das Denken, Fühlen und das Wesen von Christie zu eigen. Als sie in Nordengland mit den Eltern Urlaub machte, fragte sie sich, warum ein Auto das andere verfolgte. Eine wahre Obsession wurde das detektivische Denken also.

Vermutlich muss man so besessen sein, um diese Aufgabe zu meistern. Doch als dann der Agent des britisch-amerikanischen Verlages Harper Collins anrief, der seit 1920 alle Romane von Agatha Christie herausgibt, erschien das allen irgendwie irreal – auch für die treibende Kraft, den Enkel Matthew Pritchard. Er lebt davon, als Vorsitzender einer Stiftung das literarische Werk zu vermarkten. „Als ich Sophie getroffen habe, da wusste ich: Wir haben eine neue Autorin gefunden.“ Und das war auch dringend nötig, denn so populär die Geschichten von Poirot und Miss Marple auch noch immer sind, die Anhängerschaft ist überaltert. Das räumt David Brawn, Herausgeber bei Harper Collins, auch ganz offen ein. „Die Teenager lesen lieber Harry Potter, der Markt für unsere Bücher erneuert sich nicht“, analysiert er.

Der belgische Detektiv schickt keine SMS

Die Idee eines Neustarts ist nicht neu. Viele fühlten sich in den vergangenen Jahrzehnten berufen. Doch die Stiftung und der Verlag haben stets abgelehnt. Dann hat sich David Brawn mit Sophie Hannah zum Mittagessen getroffen. „Als sie zu erzählen begann, musste ich lächeln. Und das mache ich selten“, sagt David Brawn.

Der Rahmen ist also gesetzt. Das Erscheinungsdatum auch: Im September 2014, beim nächsten Festival, soll das Werk präsentiert werden. Aber was steht denn nun drin? Wie wird der neue alte Hercule Poirot sein? Soll es das Christie’sche Kurzformat von 120 Seiten haben oder die epische Länge moderner Novellen? Spielt es in der Neuzeit oder in den zwanziger Jahren? Diese Frage zumindest ist beantwortet. Es bleibt im historischen Kontext, weil der distinguierte belgische Ordnungsfanatiker wohl kaum mit SMS und Facebook operieren würde – so wie das der moderne „Sherlock“ in der Verfilmung mit Benedict Cumberbatch erfolgreich getan hat. Nein, zu viel Veränderung wollen die Macher der Leserschaft nicht zumuten – und natürlich auch nicht zu viel verraten.

Mord, Tod und Kälte

Aber vermutlich lehnt es sich an die Tradition des „Whodunnit“-Genres an, das Christie geprägt hat: Alle Verdächtigen werden vorgestellt, aufgereiht, es passieren Morde, und am Ende werden sie alle zusammengerufen, und der Meisterdetektiv löst auf, inklusive moralischer Verurteilung des Täters. „Es ist schwierig, die Kontinuität einzuhalten“, gibt Sophie Hannah zu. Es wird also der klassische Aufbau im neuen Set, eine große Wendung und maximal 200 Seiten lang, das verrät der Verleger David Brawn. Vielleicht spielt es sogar in Devon, der englischen Grafschaft, in der Torquay liegt und in der viele Romane tatsächlich spielen. Aber eine reine Imitation soll es dann eben auch nicht sein. „Ich wäre ja verrückt, wenn ich das versuchen würde“, winkt Sophie Hannah ab. Es soll ein neuer Stil werden, ohne die geniale Simplizität in Kombination mit messerscharfen Konstruktionen von Agatha Christie zu verlieren. Das gilt auch für den Titel: Nicht die in nordischen Krimis übliche Kombination von Mord, Tod und Kälte, sondern griffig und klar wie „Blausäure“. Nicht nur, wenn Hannah mit dem Poirot-Darsteller des Festivals posiert, hat man den Eindruck: das könnte etwas werden.

Die Fangemeinde bleibt dennoch skeptisch. Und was hätte wohl Agatha Christie selbst gesagt? Der Nachfahr gibt die passende Antwort: „Sie hat nie so viel Aufhebens um sich selbst gemacht. Sie hätte sich einfach gefreut, dass sich noch so viele Leute für ihre Figuren interessieren.“

Gedichte und Grauen

Ihren ersten Gedichtband „The Hero and the Girl next door“ veröffentlichte Sophie Hannah im Alter von 24 Jahren. Die britische Poetry Book Society zählt sie zu den Dichtern der sogenannten „Next Generation“. Die Autorin hat außerdem einige Kinderbücher verfasst. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Cambridge.

Der 2006 veröffentlichte Psychothriller „Still, still“ wurde ebenso wie ihre anderen Krimis in 20 Sprachen übersetzt. In Deutschland erscheinen ihre Krimis im Bastei-Lübbe Verlag. Der neueste ist im Januar erschienen und heißt: „Der kalte Schlaf“.