Serhii Lukashov, Landesdirektor der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine, hält die Lage in der Ostukraine für katastrophal. Um möglichst viele Kinder in Sicherheit zu bringen, hat die Organisation eine große Evakuierungsaktion gestartet.

Kiew - Serhii Lukashov, 49, ist Landesdirektor der SOS-Kinderdörfer in der Ukraine. Mit seinem Team organisiert der studierte Sozialarbeiter die Evakuierung von Kindern und ihren Familien und Pflegefamilien aus den umkämpften Gebieten in der Ostukraine in sichere Gebiete in der Region Lwiw. Sie werden in derzeit nicht ausgelasteten Reha-Kliniken untergebracht.

 

Herr Lukashov, SOS-Kinderdörfer arbeitet auf beiden Seiten der Front, auch in Luhansk. Wie ist die Situation vor Ort?

Die Lage ist katastrophal und wird von Stunde zu Stunde schlechter. Wir helfen Kindern auf beiden Seiten der Front, der sogenannten Kontaktlinie. Dort herrscht seit acht Jahren Krieg. Seitdem kam es immer wieder zu größeren Gefechten und kleineren Scharmützeln. Aber seit ein paar Tagen hat der Beschuss stark zugenommen. Die Kontaktlinie brennt! Die von der Regierung kontrollierten Gebiete liegen unter schwerem Artillerie-Beschuss.

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Konnten Sie bislang auf beiden Seiten der Front ungehindert arbeiten?

In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten hatten wir bislang kaum Probleme. Auf der anderen Seite der Kontaktlinie sind wir teilweise auf großes Misstrauen gestoßen. Uns wurde manchmal unterstellt, wir seien Agenten der Ukraine oder des Westens. Aber das ist natürlich absoluter Quatsch.

Wie läuft die Evakuierungsaktion?

Wir haben für die Kinder und ihre Pflegeeltern Zugtickets gekauft. Die Familien haben in großer Eile das Nötigste – also vor allem Klamotten, Pässe und Handys – zusammengepackt und haben mit der Unterstützung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die rund 20-stündige Reise in den derzeit sicheren Westen der Ukraine angetreten. Vor ein paar Tagen meinten einige Leute noch, dass unsere Aktion eine panische Überreaktion sei, aber die politische und militärische Eskalation der letzten Tage hat gezeigt, dass es keineswegs zu früh war. Wir müssen versuchen, möglichst viele Kinder und Familien in Sicherheit zu bringen, solange es noch machbar ist.

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Wollen denn alle Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen?

Nein! Viele Menschen haben sich an den Krieg gewöhnt und sind völlig abgestumpft. Die Menschen an der Kontaktlinie glauben oder hoffen, dass es auch dieses Mal nicht so schlimm kommen wird. Aber der politische Kontext hat sich in den letzten Tagen dramatisch verschlechtert. Leider spricht vieles dafür, dass es zu einer militärischen Eskalation kommt.

Hilft SOS-Kinderdörfer auch jenen, die trotz des Krieges bleiben wollen?

Wir versuchen sie zu überzeugen, mit unserer Hilfe zumindest zeitweise in sichere Gebiete umzusiedeln. Sollten sie dennoch bleiben wollen, versuchen wir sie dabei zu unterstützen, Vorräte anzulegen. Und wir klären Kinder über die Gefahr von Minen auf. Die Ostukraine gehört mittlerweile zu den am stärksten verminten Gebieten der Welt.

Was haben acht Jahre Krieg mit den Kindern gemacht?

Viele Kinder kennen nur Krieg. Der Krieg hat die Kinder schwer traumatisiert. Auch wenn sie noch sehr jung sind, sind viele von ihnen keine Kinder mehr. Sie spielen nicht mehr und haben sich emotional verschlossen. Manche sprechen nicht mehr, andere leiden unter Panikattacken oder schweren Depressionen. Was der Krieg aus den Kindern gemacht hat, ist eine Schande.

Wie wird den Kindern geholfen?

Mit Musik-, Mal-, und Spieltherapie, psychotherapeutischen Angeboten und der Unterstützung von Familien versuchen wir, den Kindern zu helfen, damit sie wieder Kinder werden können. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Das dauert und kostet viel Geld. Und mit jedem weiteren Tag Krieg wird diese Aufgabe größer und schwerer lösbar. Aber wir geben nicht auf.