Matsch, Regen, Kälte. Das Southside macht es den Besuchern nicht leicht. Wären da nicht so großartige Bands wie Portishead und Arcade Fire.

Neuhausen ob Eck - Es ist ein Moment wie ausgedacht. Zum ersten Mal nach unfassbar viel Regen kommt am Samstagnachmittag für länger als fünf Minuten die Sonne heraus. Spontan recken sich auf dem gesamten Festivalgelände tausende Arme in die Luft. Es wird gejubelt, umarmt, fotografiert. Wir wissen nicht, was es ist, aber es scheint direkt auf uns herab! Als wäre es abgesprochen, setzt zur selben Zeit die orchestrale Begleitung der Band Elbow aus Manchester zum Höhenflug an. Ein halber Regenbogen spannt sich über die Bühne. Es wird sentimental. Aber das ist einfach, wenn man knieftief im Matsch steht.

 

Die Bedingungen sind am zweiten Tag des Southside Festivals noch ein bisschen abenteuerlicher geworden. Der Matsch auf unserer Haut wäre sicher längst zur Kruste geworden, würde es nicht immer wieder regnen, würden nicht immer wieder neue Matschfladen auf Beine, Arme, Ohren spritzen. Auf diese Weise sind viele Besucher längst eins mit dem Festival geworden. Vom braunen Boden kaum noch zu unterscheiden. Die Bühnen ragen inzwischen wie Inseln aus dem schlammigen Meer empor. Für die meisten von uns werden sie für immer unerreichbar bleiben. Aber so feiern wir eben die, die es nach da oben geschafft haben.

Polka mit Kaizers Orchestra

Zum Beispiel die etwas verrückten Norweger von Kaizers Orchestra. Seit Jahren spielt die Band eher in der zweiten Reihe, war Headliner auf diversen kleineren Festivals. Aber auch beim Southside findet die schräge Mischung aus Polka und Indie ihr Publikum. Und das staunt über allerlei Deko-Artikel auf der Bühne  - von der Nachttischlampe über Ölfässer bis zur Gasmaske. Drüben, im Zelt, hüpfen sie auch schon wieder in ihren Gummistifeln. The Astroids Galaxy Tour aus Kopenhagen machen mit Funk allerbeste Laune, Sängerin Mette Lindberg springt in ihrem Glitzeroutfit wie ein Flummi über die Bühne. Draußen regnet's übrigens wieder. Und wer's lieber melancholisch hat, kann ja auch zu Glasvegas gehen.

Von Bühne zu Bühne zu kommen, dauert immer länger. Immer wieder drohen die Gummistiefel im Morast stecken zu bleiben. Bloß alles gut festhalten. Was immer jetzt herunterfällt - Geld, Handys, Zahnbürsten - wird für immer immer im Festival verschwunden sein. Lieferanten versuchen verzweifelt Sackkarren zu ziehen, doch alle Räder stehen still. Waghalsige Festivalbesucher stürzen sich mit Haut und Haaren ins Schlammbad und ernten anerkennde Blicke von denen, die mit Kamm, Erfrischungstüchern und Zahnpasta die Zivilisation aufrecht erhalten wollen. Es sind die Momente, in denen man sich fragt: Was mache ich hier eigentlich?

Glücklicherweise hatte der Samstagabend gute Antworten.

Abklatschen mit Beth Gibbons

Um es gleich zu sagen: Portishead spielten ein fantastisches Konzert. Die Band aus der Trip-Hop-Stadt Bristol und vor allem ihre Sängerin Beth Gibbons zieht noch immer Tausende in ihren Bann. Fast andächtig stehen sie vor der Bühne, hören diesen einzigartigen Sound elektronisch singender Sägen, wummernder Bässe, heulender Gitarren. Gibbons fast leise Stimme taucht aus diesem massiven Soundgeflecht auf  wie eine Blume, die sich durch eine dicke Erdschicht kämpfen muss. Und wenn sie singt, kneift sie die Augen zusammen, Falten legen sich über ihr Gesicht. Es ist, als müsste sie unter ihrem Kapuzenparker den Weltschmerz verstecken. Videoeffekte auf der riesigen LED-Wand hinter hier machen Gibbons zu einer Lichtschluckerin. Noch so ein magischer Moment.

Sie spielen neue, experimentelle Stücke, aber auch Klassiker wie "Numb", "Wandering Stars" und "Roads". Bei "Machine Gun" vom letzten Album "Third" kommt Bewegung ins Publikum, das sich jetzt eigentlich mal aufwärmen müsste. Aber dafür sind Portishead eben die Falschen. Zum Schluss macht Gibbons etwas, was man nun gar nicht von ihr erwartet hätte: sie geht an die Absperrung und klatscht Hände in der ersten Reihe ab und kommt aus dem Lachen dabei gar nicht mehr heraus. Kaum zu glauben, dass das die Frau sein soll, die eben noch die allertraurigsten Lieder des Festivals gesungen hat.

Riesenparty mit Arcade Fire

Nach einem, übrigens ganz hervorragendem, DJ-Set von A-Trak im Zelt ist die Körpertemperatur wieder bereit für das nächsten Open-Air-Konzert. Arcade Fire kommen mit deutlicher Verspätung auf die Bühne, denn die musste nach einem Regenguss getrocknet werden. Zu Beginn der Show gibt es Ausschnitte aus dem Film "The Suburbs". So heißt auch das mit dem Emmy ausgezeichnete Album der Kanadier. Wer sie mal live gesehen hat, will die Band am liebsten mit zehn weiteren Preisen beschenken.

Arcade Fire sind vielleicht die beste Band des Festivals. Zu acht stehen sie auf der Bühne, verteilen sich hinter etlichen Instrumenten, die man sonst nie auf Festivals sieht. Von Beginn an ist ihr Auftritt fulminant. "No Cars Go", "Neighbourhood", "Ready To Start" - Arcade Fire gehen direkt in die Vollen. Ihre hymnischen Gesänge: fantastisch. Das Gewusel auf der Bühne: jetzt schon legendär. Bei kaum einer anderen Band überträgt sich die schiere Begeisterung für Musik so schnell aufs Publikum wie bei Arcade Fire. Mit ihnen feiert das Southside, die größte, die beste Party.

LED-Gwitter bei den Chemical Brothers

Wer danach zu aufgekratzt ist, um schlafen zu gehen, feiert noch mit den Chemical Brothers, die längst ihre eigene Liga in der elektronischen Musik sind, was weniger als innovativen Sounds, als mehr an der gigantischen Show liegt. Sie haben die größten, grellsten, besten Video-Effekte des Tourneegeschäfts. Ein runder Vorhang aus LEDs senkt sich zu Beginn des Sets über ihre raumschiffartige Schaltzentrale, dahinter tauchen meterhohe Fratzen, Schmetterlinge, Feuerwerke auf - je nach Stimmung. Was die Engländer Tom Rowlands und Ed Simons da eigentlich so genau machen, welche Knöpfchen sie drehen, weiß niemand so genau. Ist aber auch egal. Sound und Licht sind derart mitreißend, dass der zweite Tage in einer tanzenden Menge endet.

Am Sonntag soll es übrigens regnen.