Die jüngste Tochter des Ehepaar Staiger, Elena, die zwischendurch vorbeikommt, erinnert sich, dass damals in einigen Apotheken Geigerzähler aufgestellt wurden. Sie und ihre beste Freundin hätten sich einen Spaß daraus gemacht, diese zum Knattern zu bringen. „Die schlugen an wie verrückt.“ Das muss im Herbst oder Winter 1986 gewesen sein, nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl. Damals kamen amerikanische Atomkraftgegner in die Stadt Semipalatinsk, es gab die erste Demonstration für die Schließung des Testgeländes, vermutlich war diese Apothekenaktion schon ein Teil davon – die Keimzelle der Bewegung „Semipalatinsk-Nevada“.

 

Bis den Staigers bewusst wurde, wie gravierend die Folgen sind, verging noch mal eine Weile. Ihr Garten am Fluss Irtysch verseucht, die Erde, das Wasser, die Luft. „Arnold, mei Onkel, der hot son Hals ghett.“ Emil Staiger deutet mit den Händen die Größe der Geschwulst an. „Ond hot sich nachher ombrocht.“ Walter, Eugen, Willi, Helmut, mehr als ein Dutzend Namen von früh gestorbenen Verwandten hat er inzwischen zusammengetragen. „Krebs“, kommentiert Hulda Staiger. Der Name einer entfernten Nichte taucht auf, Olinde, die drei ihrer vier Kinder verloren hat, der letzte, schon in Deutschland geborene Bub starb an Mukopolysaccharidose, einer erblich bedingten Krankheit. „Kenn ich nicht!“, sagt Lilli schroff. Für einen Augenblick herrscht angespannte Stille.

Lilli Staiger weiß inzwischen, die Atomwaffentests betreffen auch sie. Und auch einmal ihre Kinder und Kindeskinder, etwa zehn Generationen lang. „Darüber will ich nicht nachdenken!“ Einerseits geht sie mit der Tatsache relativ offen um. Die ehrgeizige junge Frau, Germanistin und heute im Marketing erfolgreich, hat ihren Kollegen davon erzählt. Sie witzeln oft, wenn sie mal wieder energiegeladen das Büro betritt: „Das kommt von der Radioaktivität.“ Wer ihren Geburtsort Semipalatinsk googelt, findet Hundertausende Einträge über das Testgelände, Bilder von deformierten Menschen und Tieren. Andererseits will Lilli Staiger nicht, dass die Schrecken der Vergangenheit ihr Leben überschatten.

Ihr Großvater würde diese gern publik machen. „I hab nix zu verliere.“ Emil Staiger hält es für einen Skandal, dass sich Deutschland für die hier lebenden Opfer, allesamt Bürger dieses Landes, nicht zuständig fühlt. Die Republik Kasachstan hat ihm 1993, kurz vor der Ausreise, urkundlich bescheinigt, dass er in der „Region des außerordentlichen Risikos“ gelebt hat, und ihm diverse Vergünstigungen und ärztliche Unterstützung zugestanden. Wenigstens sollte die Bundesrepublik spezielle, kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für diese Gruppe anbieten, besonders für Schwangere, meint er. Dazu müssten die Krankenkassen informiert, Ärzte in Strahlenmedizin fortgebildet werden.

Am frühen Abend lässt der Regen doch noch nach. Und so machen wir uns auf in den Kleingarten, ohne Hulda, der das Gehen schwer fällt. Am Rande der Kolonie liegt er, dicht bepflanzt mit Bohnen, Kürbis, Kohl, Obst und Beeren. Im Nu sind Großvater und Enkelin an der Himbeerhecke und stopfen sich die Münder voll. „Im Garten“, sagt Lilli, „vergesse ich alles.“ Und Emil: „Mir könnet do elles esse. Ohne Angscht.“

Emil war in diesem Jahr, als Hitler die Sowjetunion überfiel und Stalin an den Deutschen in der UdSSR Rache nahm, gerade sieben. Nur das Nötigste durften sie einpacken. Und rauf auf die mit Büffeln bespannten Wagen, dann per Bahn nach Baku, mit dem Schiff übers Kaspische Meer, bis sie schließlich ein Güterzug auf der nackten kasachischen Steppe abkippte. Viele starben unterwegs, auch Emils kleiner Bruder Ewald. Als die Überlebenden, darunter die sechsjährige Hulda, eine Nachbarin aus Waldheim, das Dorf Sargal erreichten, war Winter. Weihnachten herrschten 50 Grad Frost, das Obdach eine armselige Hütte.

„Der Pfifferling“ und „die Satansfaust“

„Unfassbar“, sagt Lilli Staiger. Es habe ihr wehgetan, dies in allen Details zu erfahren, sich ihren Großvater als kleinen Jungen vorzustellen, der nach der Deportation Zwangsarbeit verrichten muss, unter anderem als Viehhirte, und bis zum 13. Lebensjahr keine Schule besucht. „Unfassbar“, dass zu allem Leid ein weiteres kommt. Davon hatte Lilli bis dahin nicht mal andeutungsweise gehört: Nahe dem Dorf Sargal zündet die Sowjetmacht ihre erste Atombombe am 29. August 1949.

„Der Pfifferling“ und „die Satansfaust“, wie die Kasachen die Explosionswolke nannten, erschien mehrmals im Jahr. Oft ohne Vorwarnung, manchmal kündigten Soldaten eine „Sanjatie“, eine Militärübung, an. Türen schließen, hieß es, die Schornsteine mit Schaffellen zustopfen. Nur einmal wurden die Bewohner weggebracht, erinnert sich Emil Staiger, Sommer 1953, bevor eine große Wasserstoffbombe getestet wurde. Drei Monate hätten sie in einiger Entfernung auf offener Steppe verbracht. Danach sei es ihm gelungen, in die Stadt zu entfliehen, nach Semipalatinsk. Auch dort, 90 Kilometer von dem Testgelände entfernt, war das Beben zu spüren. „Do sind ällamol de Tasse in de Luft gsprunge.“

An diesem Nachmittag schüttet es über dem Schwarzwald. Wir essen Blintschiki, dünne Pfannkuchen mit selbst gekochter Himbeermarmelade. Immer wieder gießt die Ehefrau Hulda schwarzen Tee mit Milch nach. „Wann haben Sie begriffen, in welcher Gefahr Sie lebten?“ Die Staigers zögern. „Voll ond ganz, wo mer in Deutschland waret.“ Anfangs, so rekonstruieren sie, gab es das Sprechverbot. Zum Nachdenken kamen sie nicht so recht, das Lernen und Schaffen haben sie ausgefüllt. Emils Karriere vom Analphabeten zum Boss verschiedener Betriebe, Ehe, Kinder. Der frühe Tod einiger Angehöriger hat sie irritiert, das schon. Erst in den Achtzigern, mit Gorbatschows Glasnost, begann in Semipalatinsk eine öffentliche Diskussion.

Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl

Die jüngste Tochter des Ehepaar Staiger, Elena, die zwischendurch vorbeikommt, erinnert sich, dass damals in einigen Apotheken Geigerzähler aufgestellt wurden. Sie und ihre beste Freundin hätten sich einen Spaß daraus gemacht, diese zum Knattern zu bringen. „Die schlugen an wie verrückt.“ Das muss im Herbst oder Winter 1986 gewesen sein, nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl. Damals kamen amerikanische Atomkraftgegner in die Stadt Semipalatinsk, es gab die erste Demonstration für die Schließung des Testgeländes, vermutlich war diese Apothekenaktion schon ein Teil davon – die Keimzelle der Bewegung „Semipalatinsk-Nevada“.

Bis den Staigers bewusst wurde, wie gravierend die Folgen sind, verging noch mal eine Weile. Ihr Garten am Fluss Irtysch verseucht, die Erde, das Wasser, die Luft. „Arnold, mei Onkel, der hot son Hals ghett.“ Emil Staiger deutet mit den Händen die Größe der Geschwulst an. „Ond hot sich nachher ombrocht.“ Walter, Eugen, Willi, Helmut, mehr als ein Dutzend Namen von früh gestorbenen Verwandten hat er inzwischen zusammengetragen. „Krebs“, kommentiert Hulda Staiger. Der Name einer entfernten Nichte taucht auf, Olinde, die drei ihrer vier Kinder verloren hat, der letzte, schon in Deutschland geborene Bub starb an Mukopolysaccharidose, einer erblich bedingten Krankheit. „Kenn ich nicht!“, sagt Lilli schroff. Für einen Augenblick herrscht angespannte Stille.

Lilli Staiger weiß inzwischen, die Atomwaffentests betreffen auch sie. Und auch einmal ihre Kinder und Kindeskinder, etwa zehn Generationen lang. „Darüber will ich nicht nachdenken!“ Einerseits geht sie mit der Tatsache relativ offen um. Die ehrgeizige junge Frau, Germanistin und heute im Marketing erfolgreich, hat ihren Kollegen davon erzählt. Sie witzeln oft, wenn sie mal wieder energiegeladen das Büro betritt: „Das kommt von der Radioaktivität.“ Wer ihren Geburtsort Semipalatinsk googelt, findet Hundertausende Einträge über das Testgelände, Bilder von deformierten Menschen und Tieren. Andererseits will Lilli Staiger nicht, dass die Schrecken der Vergangenheit ihr Leben überschatten.

Ihr Großvater würde diese gern publik machen. „I hab nix zu verliere.“ Emil Staiger hält es für einen Skandal, dass sich Deutschland für die hier lebenden Opfer, allesamt Bürger dieses Landes, nicht zuständig fühlt. Die Republik Kasachstan hat ihm 1993, kurz vor der Ausreise, urkundlich bescheinigt, dass er in der „Region des außerordentlichen Risikos“ gelebt hat, und ihm diverse Vergünstigungen und ärztliche Unterstützung zugestanden. Wenigstens sollte die Bundesrepublik spezielle, kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für diese Gruppe anbieten, besonders für Schwangere, meint er. Dazu müssten die Krankenkassen informiert, Ärzte in Strahlenmedizin fortgebildet werden.

Am frühen Abend lässt der Regen doch noch nach. Und so machen wir uns auf in den Kleingarten, ohne Hulda, der das Gehen schwer fällt. Am Rande der Kolonie liegt er, dicht bepflanzt mit Bohnen, Kürbis, Kohl, Obst und Beeren. Im Nu sind Großvater und Enkelin an der Himbeerhecke und stopfen sich die Münder voll. „Im Garten“, sagt Lilli, „vergesse ich alles.“ Und Emil: „Mir könnet do elles esse. Ohne Angscht.“