Die Sozialgerichte werden derzeit bundesweit von Klagen der Krankenkassen überrollt. Allein im Südwesten zählen sie derzeit 3000 Klagen. Die Welle wurde insbesondere von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ausgelöst, der eigentlich das Gegenteil bezweckt hatte.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Bundesweit werden die Sozialgerichte von einer Klagelawine der Krankenkassen gegen die Kliniken überrollt. Dabei geht es um eventuell überhöht abgerechnete Behandlungskosten, die die Kassen vor dem Inkrafttreten einer Neuregelung vorsorglich zurückfordern. Allein in Baden-Württemberg verzeichnen die acht Sozialgerichte binnen drei Wochen insgesamt 3000 Klageeingänge aus dem Bereich, wie ein Sprecher des Landessozialgerichts unserer Zeitung sagte. In anderen Ländern sind die Zahlen noch gravierender.

 

Anlass ist ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom Juni zur Abrechnung von Behandlungskosten, das die Krankenkassen begünstigte. Am 9. November hat der Bundestag zudem das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz verabschiedet und rückwirkend die Verjährungsfrist für Vergütungsansprüche der Krankenhäuser sowie für Erstattungsansprüche der Träger in der gesetzlichen Krankenversicherung von vier auf zwei Jahre verkürzt. Damit sollen frühere Behandlungen, die nach damaligen Vorgaben beanstandungslos abgerechnet wurden, nicht nachträglich in Frage gestellt werden können. Davon sind vor allem die Schlaganfallbehandlung und die geriatrische Versorgung tangiert.

Gesundheitsminister wollte Sozialgerichte entlasten

Eigentlich wollte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der Justiz helfen. „Die Regelung zielt auf die Entlastung der Sozialgerichte und der Durchsetzung des Rechtsfriedens, der mit der rückwirkenden Einführung der verkürzten Verjährungsfrist beabsichtigt ist“, heißt es in einer Bundestags-Drucksache. Passiert ist das Gegenteil: Seither ziehen die Krankenkassen gegen mutmaßlich fehlerhafte Abrechnungen vor Gericht. Zudem „verrechnen sie aktuelle Rechnungen mit vermeintlichen Forderungen aus der Vergangenheit“, schildert der Vorstandschef der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG), Detlef Piepenburg. „Belastend“ nennt er die Situation für die Kliniken – es sei aber „völlig nachvollziehbar, dass die Krankenhausgeschäftsführer empört reagieren und die sofortige, vollständige Bezahlung der aktuellen Rechnungen verlangen“. Bisher seien mindestens 30 bis 40 Millionen Euro im Land strittig. Dabei seien noch nicht alle Klagen bei den Kliniken eingegangen. Es seien in den nächsten Tagen sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene Gespräche mit den Kassen geplant, „die hoffentlich schnell zu Lösungen führen“, ergänzt ein BWKG-Sprecher.

Spahn beruf einen Runden Tisch ein

Bundesweit geht es um Rückforderungen im Gesamtwert von bis zu einer halben Milliarde Euro. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) verteidigte das Vorgehen nach der „Hau-Ruck-Aktion der Bundesregierung“ als notwendig, „um nicht quasi über Nacht die Ansprüche der Krankenkassen und damit der Beitragszahler nicht zu verlieren“. Die Kassen aber bereit zum konstruktiven Dialog, ohne die Gerichte abzuwarten.

Angesichts von bundesweit bis zu 200 000 Klagen hat Spahn nun wie zuvor einige Länder einen Runden Tisch einberufen. Die Kassen begrüßen eine Vermittlung, und auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) zeigt sich erleichtert, dass das Ministerium das Angebot der Ersatzkassen zur Verständigung aufgegriffen habe. Für die Krankenhäuser sei die Situation durch Unsicherheit und Angst um die Liquidität geprägt, heißt es. Das Vorgehen der Kassen könne sich existenzgefährdend auf unterfinanzierte Kliniken auswirken. Zuvor hatte die DKG noch „schamloser Geldschneiderei der Kassen“ gesprochen. Auch der Bundesrat forderte eine Lösung.

Die Klagewelle zeige, „wie schnell Gesetzesänderungen manchmal erhebliche Folgen für Gerichte haben“, sagte Justizminister Guido Wolf (CDU) unserer Zeitung. „Im Moment deutet alles auf eine lediglich vorübergehende Entwicklung hin.“ Sie werde aber genau beobachtet. „Sofern erforderlich werden wir reagieren“, so Wolf zu der sich anbahnenden Personalmisere.