Sozialminister Lucha in Stuttgart kündigt einen „Paradigmenwechsel“ an: Ab Mitte September keine Beschränkungen mehr für alle Doppeltgeimpften.

Stuttgart - Im für die Corona-Bekämpfung federführenden Sozialministerium von Baden-Württemberg gibt es ernsthafte Überlegungen, den Inzidenzwert ab Mitte September nicht mehr als Richtwert für Beschränkungen des Alltagslebens zu verwenden. „Meine Position ist, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen, wenn vom 15. September an alle im Land ein Impfangebot erhalten haben werden“, sagte Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) unserer Zeitung. Von diesem Zeitpunkt an könne das Land gegenüber den Doppeltgeimpften mit Hinweis auf die Infektionslage keine Beschränkungen von bürgerlichen Freiheitsrechten mehr aussprechen. Im Umkehrschluss müssten sich Ungeimpfte auf Beschränkungen – etwa die Verpflichtung zum Schnelltest bei Restaurantbesuchen, Kultur- oder Sportveranstaltungen – einstellen.

 

Entscheidung der Ministerpräsidenten wird abgewartet

„Natürlich spielt die Inzidenz als Informationsquelle für das Infektionsgeschehen nach wie vor eine Rolle“, sagte Lucha. „Aber als Richtwert für die Auslösung von Beschränkungen wird er nach unserer Ansicht ab Mitte September in den Corona-Verordnungen nicht mehr auftauchen. Selbstverständlich werden wir die Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz am nächsten Montag dazu abwarten und einbeziehen.“

Nur kleine Hochzeiten ab Inzidenz 35?

Inwieweit diese Neuerung sich bereits in der für den 23. August geplanten Novelle der Corona-Verordnung niederschlägt, das wird in der Landesregierung noch diskutiert. Noch greifen schärfere Alltagsbeschränkungen ab einer Inzidenz von 35 in Baden-Württemberg. So dürfen Geburtstagsfeiern oder Hochzeiten in geschlossenen Räumen beispielsweise mit nicht mehr als 50 Personen gefeiert werden – egal ob Geimpfte oder Genesene feiern. Zur Zeit liegt die landesweite Inzidenz bei 14,8, in einigen Land- oder Stadtkreisen wie Mannheim und Heilbronn bewegt sie sich wieder auf die 35er-Marke zu.

Ein Alleingang von Baden-Württemberg

Nachdem sich die Gesundheitsminister bei ihrer jüngsten Konferenz nicht zur Neubewertung der Inzidenz einigen konnten, würde Baden-Württemberg mit der Distanzierung von der Inzidenz einen Schritt in diese Richtung im Alleingang wagen. Laut Lucha gibt es in der politischen Diskussion bundesweit auch Erwägungen, den Inzidenz-Grenzwert zur Auslösung von Corona-Schutzmaßnahmen einfach zu erhöhen: „Die neue 35er-Marke ist dann beispielsweise 300 oder 400. Das Problem, dass Doppeltgeimpfte dann bei den Beschränkungen in Mithaftung genommen werden, wird damit aber nicht gelöst“, sagte Lucha. Die Inzidenz gekoppelt mit der Zahl der Hospitalisierung werde auch nach Mitte September ein wichtiger Wert sein, um die Krankenhäuser vor einer Überlastung zu schützen. Unklar ist die Lage, inwiefern im Herbst bei einer – angenommenen Zahl von 25 Prozent Nichtgeimpfter- das Virus „in diesem Personenkreis wütet“, so Lucha. Und welche Maßnahmen dann zu ergreifen seien.

Zahlen aus Großbritannien machen Hoffnung

Lucha: „Die Inzidenz bleibt eine wichtige Zahl, um das Infektionsgeschehen zu verfolgen. Aber in die Corona-Verordnung wollen wir die Belastung der Intensivstationen mit Covid-Patienten als zentralen Indikator festlegen, damit wir eine landesweite Notbremse betätigen können, wenn Intensivstationen drohen, überlastet zu werden.“

Zahlen aus Großbritannien aber stimmten eher hoffnungsvoll: Dort habe es bei vergleichbaren Inzidenzen vor den Impfungen 40 000 Corona-Patienten in den Krankenhäusern gegeben, nach den Impfungen seien es nur noch 4000 bis 5000 gewesen.

Sorge bereitet den Verantwortlichen im Sozialministerium das relative niedrige Impftempo im Land. Lucha: „Wir haben jetzt täglich etwa 20 000 Impfungen in den Impfzentren. Wir könnten aber in den Impfzentren bis zu 80 000 Impfungen durchführen“, sagte Lucha. Derzeit haben 60,1 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg eine Erstimpfung, 54 Prozent sind vollständig geimpft.