Warum klagt die EnBW nicht schon 2011 gegen den Atomausstieg? Die Klage des Konzerns zeigt: in der „aufgeregten Situation“ nach Fukushima fürchtete er den Zorn von Kunden und Kommunen – und damit ums Image. Jetzt gilt das nicht mehr.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Die EnBW gab sich geheimniskrämerisch. Auch auf Nachfrage wollte der Karlsruher Energieversorger partout nicht verraten, wie viel Schadenersatz er von Bund und Land wegen der Abschaltung der Atomkraftwerke nach Fukushima verlangt. Von Eon (386 Millionen Euro) und RWE (235 Millionen Euro) ist dies bekannt, EnBW dagegen sprach konsequent nur von einem „niedrigen dreistelligen Millionenbetrag“. Ob es um 100, 150 oder 200 Millionen ging, blieb unklar.

 

Nun hat das Rätselraten ein Ende. Mit der Ende vorigen Jahres beim Landgericht Bonn eingereichten Staatshaftungsklage fordert der Konzern genau 261  191  024 Euro und 49 Cent. Das geht aus der strikt unter Verschluss gehaltenen, knapp 90-seitigen Klageschrift hervor, die der Stuttgarter Zeitung vorliegt. Zusätzlich fordert die EnBW auf den Betrag Zinsen, und zwar zu einem Satz von fünf Prozentpunkten über dem derzeit leicht negativen Basiszinssatz; dies würde pro Jahr weitere etwa 10 Millionen Euro ausmachen. Darüber hinaus will das Unternehmen feststellen lassen, dass ihm sämtliche, derzeit noch nicht bezifferbaren Schäden ersetzt werden, die durch das Aus für das Kernkraftwerk Neckarwestheim 1 (GKN 1) mit noch nicht vollständig abgebrannten Brennelementen entstehen.

„Gefahrenverdacht“ auf wackeligen Füßen

Nach der von der Stuttgarter Kanzlei Dolde Mayen & Partner erstellten Klageschrift ergibt sich der geforderte Betrag von gut 260 Millionen Euro aus Schäden von 147 Millionen Euro beim Kernkraftwerk Philippsburg 1 und 114 Millionen Euro bei GKN 1. Berechnet wurde jeweils die „ausgefallene Stromproduktion“ zwischen der Abschaltung der Altmeiler nach Fukushima im März und dem Inkrafttreten des Atomausstiegsgesetzes im August 2011, abzüglich des gesparten Entgelts für die Entnahme von Kühlwasser, zuzüglich der Kosten für den „Fremdbezug von Strom“.

In der Klage wird ausführlich erläutert, warum EnBW die Zwangsabschaltung der beiden Kernkraftwerke für rechtswidrig hält. Im vergleichbaren Fall des hessischen Atommeilers Biblis sei dies bereits höchstrichterlich festgestellt. Bund und Länder stützten die Verfügungen damals auf eine Klausel im Atomgesetz zum „Gefahrenverdacht“: Nach Fukushima müssten die Risiken besonders der älteren Reaktoren neu bewertet werden. Von Juristen sei dieser Weg fast durchweg als untauglich oder sogar skandalös eingeschätzt worden, argumentieren die EnBW-Anwälte: an der Gefährdung habe sich nichts geändert, ein Tsunami wie in Japan sei in Deutschland nicht zu befürchten – schon gar nicht Hunderte Kilometer von der Küste entfernt.

Grünen-Abgeordnete als Zeugin der EnBW

Dabei beruft sich das Unternehmen auch auf ein Schreiben des Landes an die Umweltorganisation Greenpeace. Zwei Tage nach Inkrafttreten des Atommoratoriums werde darin betont, bei einer Überprüfung der beiden Altmeiler seien „keine sicherheitstechnischen Defizite zu Tage getreten“; gerade GKN 1 verfüge vielmehr über ein „hohes Sicherheitsniveau“. Zuständige Umweltministerin war damals Tanja Gönner (CDU). Auch die Grünen-Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl wird als Zeugin für Zweifel am rechtlichen Vorgehen benannt. „Beugen Sie nicht das Atomrecht“, wird ein Debattenbeitrag von ihr zitiert, „machen Sie kein windiges Moratorium ohne rechtliche Grundlage.“

Mit keinem Wort erwähnt die EnBW in der Klage hingegen, dass sie damals angeboten hatte, den Reaktor Neckarwestheim „vorübergehend freiwillig“ abzufahren. Dies wurde kurz vor dem Moratorium per Pressemitteilung verkündet. Intern machte das Unternehmen hingegen deutlich, dass der Altmeiler nur auf Geheiß abgeschaltet werde. Eine Täuschung der Öffentlichkeit will die EnBW darin allerdings nicht erkennen.

Zurückhaltung wegen „aufgeregter Situation“

Ausführlich begründet der Konzern, warum er damals keine Rechtsmittel gegen die Anordnung eingelegt hat. Dies gilt als größte Hürde für den Erfolg seiner Klage. Man könne „nicht erst auf Rechtsmittel verzichten und dann Jahre später die Hand aufhalten“, wird der Anwalt des Landes, Hartmut Gaßner aus Berlin, zitiert. Eine Klage wäre für die Kernkrafttochter damals „unzumutbar“ gewesen, argumentieren die EnBW-Anwälte. Sie hätte zu „großen Imageschäden mit entsprechenden finanziellen Einbußen geführt“. In der „aufgeregten Situation“ nach Fukushima wäre sie „nicht zu vermitteln“ gewesen, „als Folge hätten erhebliche Kundenverluste im Privatkundenbereich gedroht“. Zudem wären laufende Verhandlungen um die Vergabe von Konzessionen für Strom und Gas „erheblich beeinträchtigt“ worden, gerade angesichts der Diskussionen über die Rekommunalisierung. Man habe keine Schlagzeilen wie RWE provozieren wollen, das gegen die Anordnung klagte. Eine der Überschriften wird sogar zitiert: „RWE missachtet die Wünsche der Kunden.“

Hinweis der Redaktion (12. März, 11.20 Uhr): Im ursprünglichen Artikel war ein Foto des Kernkraftwerks Philippsburg, im Bildtext ist hingegen die Rede vom Kernkraftwerk Neckarwestheim. Wir haben das Foto gegen eines vom Kernkraftwerk Neckarwestheim ausgetauscht und bitten den Fehler zu entschuldigen.