Als die Opfer in die Gaskammern getrieben wurden, soll er ihr Geld gezählt haben. 70 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus steht ein früherer KZ-Aufseher vor Gericht.

Lüneburg - Max Eisen ist 15 Jahre alt, als er 1944 mit seiner Familie nach Auschwitz kommt. Am Bahnsteig wird seine Mutter mit seinen jüngeren Geschwistern nach rechts geschickt, er und sein Vater nach links. Bald würden sie alle wieder zusammen sein, sagen die SS-Männer an der Rampe. Max sieht seiner Mutter und seine Geschwister nie wieder. Mindestens 1,1 Millionen Menschen wurden von 1940 bis 1945 in Auschwitz ermordet. Auch Max’ Vater wird Auschwitz nicht überleben. Zu seinem Sohn sagt er: „Wenn du überlebst, musst du der Welt erzählen, was hier passiert.“ Anwalt Thomas Walther vertritt Max Eisen und 30 weitere der rund 60 Nebenkläger in dem Auschwitz-Prozesse, der diesen Dienstag vor dem Landgericht Lüneburg beginnt.

 

Walther hat sich mit Max Eisen zur Prozessvorbereitung in Toronto getroffen, wo Eisen heute lebt. Von dem Gespräch gibt es ein Video, das auf der Internetseite der kanadischen Tageszeitung „National Post“ zu sehen ist.

Gröning war so etwas wie der Buchhalter von Auschwitz

Eisen wird der erste Auschwitz-Überlebende sein, der im Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning aussagt. Gröning stand mehrmals an der Rampe, als die Juden mit dem Zug in Auschwitz ankamen. Der 93-Jährige muss sich wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen vor der 4. großen Strafkammer verantworten. Es geht um die Zeit vom 16. Mai bis 11. Juli 1944. In diesen zwei Monaten deportierte die SS in der „Ungarn-Aktion“ etwa 425 000 Juden ins Konzentrationslager Auschwitz, mindestens 300 000 Menschen wurden sofort in den Gaskammern getötet.

Gröning wachte darüber, dass die Kinder, Frauen und Männer ihr Gepäck abgaben. Während andere SS-Männer die ahnungslosen Menschen in die Gaskammern führten, sortierte und zählte er das Geld der Opfer. Oskar Gröning, der gelernte Sparkassenangestellte, war so etwas wie der Buchhalter von Auschwitz. Seiner Karriere im Nachkriegsdeutschland hat das nicht geschadet. Bis zu seiner Rente war er Personalleiter einer Fabrik in Nienburg an der Weser. Und er war zwölf Jahre lang Schöffe am Arbeitsgericht.

Laut Anklageschrift erfährt der damals 21-Jährige schon am ersten Tag im Lager von dem Massenmord. Eines nachts wird er selbst Zeuge. Gemeinsam mit Kameraden soll er Jagd auf geflohene Lagerinsassen machen. Sie kommen an einen Bauernhof. Er sieht die Leichen auf dem Hof, er sieht, wie Menschen nackt ins Haus getrieben werden, sieht, wie ein SS-Mann Zyklon B in eine Luke kippt, er hört die Schreie – und die Stille, die folgt.

Ihm drohen drei Jahre Haft

Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft Hannover sorgte Gröning durch seine Tätigkeit mit dafür, dass die Mordmaschinerie funktionieren konnte. Schon 1977 hatte die Staatsanwaltschaft Frankfurt ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Es wurde 1985 eingestellt. Danach sagte Gröning mehrmals in NS-Verfahren aus – als Zeuge. Als Angeklagter muss er sich erst jetzt verantworten.

Die Justiz hat viele Jahre verstreichen lassen, um sich um die Aufklärung der NS-Verbrechen zu kümmern. Die Wende kam 2011, als das Landgericht München den KZ-Aufseher John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord in 28 000 Fällen im Vernichtungslager Sobibor verurteilte. Den Richtern reichte die Feststellung, dass Demjanjuk in einem Lager tätig war.

Seither versucht die Justiz, noch lebende SS-Männer anzuklagen. Gröning will sprechen und Fragen beantworten. Das hat sein Verteidiger angekündigt. Würde Gröning wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, sieht das Gesetz mindestens drei Jahre Haft vor. Sein Anwalt nennt als Minimalziel „vermeiden, dass Herr Gröning tatsächlich eingesperrt wird“. Für Max Eisen kommt es nicht darauf an, ob der frühere SS-Mann ins Gefängnis kommt. Er will, dass Gröning mit Schülern über die NS-Zeit spricht.