Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen bahnt sich ein dramatisches Finish an: SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft muss um ihre Wiederwahl bangen. CDU-Herausforderer Armin Laschet profitiert von neuem Schwung.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Kein Vierbeiner jagt so schnell wie der Gepard. Hält die Gazelle jedoch lange genug durch, schwächelt er. Große Ausdauer hat er nicht. Hannelore Kraft wäre unter allen Tieren am liebsten ein Gepard, wie sie in einem Fragebogen verriet. Es ist denkbar, dass auch der SPD-Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen vorzeitig die Puste ausgeht. Der CDU-Sieg in Schleswig-Holstein gibt ihrem Rivalen jede Menge Auftrieb. Es passt daher, dass der Christdemokrat Armin Laschet am liebsten ein Vogel wäre.

 

Kurz vor dem Wahltag am Sonntag versucht Kraft all die Rückschläge einfach zu ignorieren – im Einstecken hat die 55-Jährige schon Routine. „Wir haben einen klaren Plan für Nordrhein-Westfalen“, sagt sie vor einem 400-köpfigen Publikum im Bochumer Ruhr-Congress. „An dem haben wir sieben Jahre gearbeitet und sind Schritt für Schritt vorangekommen.“ „#NRWIR im Einsatz vor Ort“ heißt das Format, bei dem Landtagskandidaten über Kurzpraktika in der Arbeitswelt berichten. Kraft moderiert das Ganze. „Wir machen heute nicht Bierzelt-Rede – es geht um Ihre Themen“, fordert sie die Zuschauer zur Aktivität auf. Das kann sie wie keine andere Politikerin: plaudern wie eine Nachbarin und dabei noch ihre Botschaften unterbringen. „Jetzt mal Butter bei die Fische: Was hast du gemacht?“, drängt sie einen der drei Kandidaten, von seinem Einsatz zu erzählen.

Von der Schwächephase im vorigen Jahr erholt

„Brutal gerne“ hat Kraft den Wahlkampf, „weil ich da jeden Tag draußen bei den Wählern sein kann“. Umso brutaler könnte am Sonntag die Erkenntnis für sie sein, nicht die richtigen Themen forciert zu haben. Denn die von der Opposition befeuerten Aufreger Staus und Sicherheit treffen den Nerv der Wähler, weshalb Kraft betont: „Wir gehen auf Bildung, Sicherheit und Infrastruktur – wir müssen aber Schwerpunkte setzen, sonst schaffen wir die Schuldenbremse nicht.“ 2010 und 2012 war sie mit dem Mantra „Kein Kind zurücklassen“ erfolgreich. Nun bilanziert Kraft: 200 Milliarden Euro – jeder dritte Euro – seien für Kinder, Familie und Bildung ausgegeben worden. Verstärkt leidet sie darunter, dass die Gegner das Land runter reden und damit Erfolg haben. Die SPD müsse die Bürger direkt erreichen, eine andere Chance habe sie angesichts der Medienlage im Land nicht. Wegen der nahen Bundestagswahlen werde ihr der Erfolg in der Herzkammer der Sozialdemokratie missgönnt, so eine Erklärung. Die Nervosität wächst demnach erheblich. Auch dass Kraft vier Tage vor der Wahl ein Bündnis mit der Linkspartei definitiv ausschließt, zeigt, wie sehr sie sich vom Gegner bedrängt fühlt. Denn CDU-Mann Laschet hat dies zuletzt immer wieder angemahnt.

Nach der Kölner Silvesternacht schien sie ihren Tatendrang verloren zu haben. „Das war eine gesundheitsbedingte Phase“, sagt ein früherer Bundestagsabgeordneter. „Die kann jeder Mensch haben.“ Jetzt sei sie wieder voll da. Am Rande eines Empfangs für Ehrenamtliche im Herner Parkhotel melden altgediente Genossen ihre Zweifel an. „Wir müssen selbstbewusst sein“, mahnt die Erste. „Wir hatten hier immer absolute Mehrheiten, da ist die Aussicht auf eine große Koalition einschläfernd“, ergänzt der Zweite. „Kraft ist vielleicht etwas abgeschlafft“, urteilt der Dritte. Sie müsse auf den Hauptfeldern „klare Kante“ zeigen.

Zum Sonnenaufgang an das Werkstor

Man kann der Ministerpräsidentin nicht vorwerfen, dass sie nicht rackert. Bis zum letzten Stehtisch schüttelt sie Hände und stellt Nähe her. Später klappert sie Betriebe ab, in denen sie zwar nicht viele Wähler erreicht, aber ihre Botschaft platziert: „Wir können Wandel.“ Es sind alte Werkshallen dabei, in denen es kracht und stinkt – aber auch piekfeine Firmen mit weltweit führenden Technologien. Bei ihren Besuchen erweckt sie den Eindruck, als käme sie praktisch jeden Monat vorbei. Schon um halb fünf Uhr in der Frühe stellt sie sich vor das Werkstor in ihrem Wahlkreis Mülheim, um Rosen an die Arbeiter zu verteilen. „Morgenröte-Aktion“ heißt das – eine Reminiszenz an Zeiten, als sich die SPD noch für den Sonnenaufgang im Revier zuständig sah.

Das Zwischenhoch um Martin Schulz ist verpufft. Kraft beschreibt den „Schulz-Effekt“ als ein Medienphänomen. Unfair findet sie es, wie nun mit dem Kanzlerkandidaten umgegangen wird. Schulz sei „beileibe nicht abgetaucht“, sondern „fleißig im Land unterwegs“, sagt sie genervt. Wenn darüber nicht mehr berichtet werde, müsse dies nicht der Realität entsprechen. Kraft ist vielmehr froh darüber, dass der Kanzlerkandidat nicht ständig neue bundespolitische Vorschläge macht. Jetzt will sie vorrangig mit ihren Landesthemen punkten.

Laschet hat es mit Kraft und Schulz zu tun

So hat ihr Herausforderer, der CDU-Landeschef Armin Laschet, zwei Gegner: Kraft und Schulz, der auch aus der Grenzregion Aachen stammt. „Sie wissen, ich komme aus Aachen – einer kleinen Stadt im Schatten von Würselen“, witzelt Laschet. Da wissen alle gleich Bescheid. Schulz nennt die Bürgermeisterphase dort als Beleg für seine Bürgernähe. „Die Würselner reden nicht so toll darüber“, sagt Laschet. Schulz sei ja zeitgleich Europaabgeordneter gewesen. Als „Eurofighter“ schätzt er diesen. „Als Kanzler hat er nicht das nötige Format.“

Das „soziale Gewissen der CDU“

Im Wahlkampfbus legt sich der 56-Jährige für einen „Business Lunch“ in Bad Lippspringe die Krawatte an. Dann lästert er vor etwa 50 Mittelstandsvertretern. „Rot-Grün kümmert sich mehr darum, wie der Wolf von Westfalen an den Niederrhein kommt, als wie die Güter dorthin gelangen.“ Persönliche Anfeindungen erspart er sich. Wegen seiner Harmoniefreude heftet ihm die SPD ein „Wackeldackel“-Image an, angeblich ein Begriff aus dem schwarzen Lager. Sein Kurs der Mitte erklärt sich aus der Tradition der CDU Nordrhein-Westfalen. „Seit Gründung der Bundesrepublik ist der CDU-Landesverband das soziale Gewissen der Partei.“ Die christliche Sozialethik gehöre programmatisch zur DNA der Bundes-CDU. Er selbst ist seit dem dritten Lebensjahr in der Kirche sozialisiert. Anders als der legendäre SPD-Landesvater Johannes Rau demonstriere er Nähe zur Kirche aber nicht mit Bibelsprüchen, sondern pflege lieber den rheinischen Katholizismus, sagt der Aachener.

Auch um den Mangel an eigenem Charisma zu kompensieren, hat Laschet einen altgedienten Christdemokraten als Law-and-Order-Vertreter eingespannt: Der Querdenker Wolfgang Bosbach soll nach der Regierungsübernahme Vorschläge für ein Sicherheitskonzept erarbeiten. Ein PR-Gag. „Nach 60 Sekunden am Wahlkampfstand stellt ein Bürger die erste Frage zur inneren Sicherheit“, pflegt Laschet zu sagen. Dann legt er los: In Nordrhein-Westfalen würden 144 Wohnungseinbrüche pro Tag verübt – „22 Prozent aller Einwohner in Deutschland – 38 Prozent aller Einbrüche“, betont er und fordert „null Toleranz gegenüber Kriminellen“. Den Innenminister Ralf Jäger attackiert er öfter als dessen Chefin – der gilt als leichtere Beute.

Großer Fan von Angela Merkel

Mehr interessiert ihn das Soziale. So ist auch ein Termin im Mehrgenerationenhaus von Bad Sassendorf in den Tourkalender gelangt. Laschet war mal Integrationsminister. In der evangelischen Einrichtung werden zehn Flüchtlinge betreut. „Das ist das gelebte ,Wir schaffen das‘“, jubiliert der CDU-Landeschef. Im Weltladen tritt ein Syrer auf ihn zu, erzählt, dass sein Bruder noch kein Aufenthaltsrecht habe und dass dessen krebskranke Tochter noch in der Türkei sei. Ob er helfen könne. „Da muss ich die Namen und die ganzen Daten wissen, damit ich da nachfragen kann“, erwidert Laschet und schaut sich hilfesuchend um. „Dann kümmere ich mich darum.“

Vor der Weiterfahrt noch rasch ein Foto: „Wisst ihr, wen ich heute Nachmittag treffe?“, fragt er die Flüchtlinge erwartungsfroh. „Da treffe ich die Angela Merkel – die kommt nach Ostwestfalen.“ Die Iraker und Libanesen lächeln höflich. In der Bundes-CDU zählt Laschet zu den größten Anhängern der Kanzlerin. Folglich lockt er Angela Merkel sogar in den 14 000-Seelen-Ort Beverungen direkt an der niedersächsischen Grenze. „Wenn man den ländlichen Raum stärken will, muss sie auch hierherkommen“, verteidigt Laschet den Provinzauftritt der Kanzlerin. Sie habe vom anstehenden 600-Jahr-Jubiläum gehört, „und dass Sie ein Super-Programm vorbereitet haben“, hebt Merkel vor 1200 gebannten Zuhörern an. „Dann kommt auch bald der Ministerpräsident Armin Laschet zu Ihnen.“

Seltsames System beim Wetten

Neben der Aussicht auf eine Beförderung halten den CDU-Kandidaten viele Tassen Kaffee und Zigarillos bei Laune. Das sei wie im Karneval: „Wenn et Trömmelche jeht“, zitiert er einen rheinischen Klassiker, „dann jeht’s los.“ Entspannung findet er samstags bei der Bundesliga vor dem Fernseher. Zuvor sucht er oft in Aachen seinen Stammtabakladen auf und füllt Lottowettscheine aus. Laschet wettet aber nur auf Unentschieden – wegen der höheren Quote. Schon bei drei Remis erzielt er einen kleinen Gewinn. Auch im Wahlkampf hat Laschet lange auf die Juniorrolle in einer großen Koalition gesetzt. Wenn die CDU zwischen Rhein und Weser den Ministerpräsidenten stellen könnte, „wäre dies eine Sensation“, sagt er. Baden-Württemberg sei für seine Partei leichter zu gewinnen als NRW. Nach dem Auftrieb der letzten Tage dürfte für ihn jetzt nur noch der Sieg zählen.