Martin Schulz zieht selbst im CSU-Land Bayern an. 5000 Besucher kommen zum politischen Aschermittwoch mit dem SPD-Kanzlerkandidaten und feiern ihn wie einen Rockstar.

Vilshofen - Martin Schulz, den sie in der SPD schon ehrfurchtsvoll St. Martin nennen, scheint selbst dem Himmel Einhalt gebieten zu können. Und das in Bayern, wo ja gemeinhin der CSU der beste Draht zu Petrus unterstellt wird. Jedenfalls hat es endlich aufgehört zu regnen und die Sonne blinzelt zwischen den Wolken, als 42 Reisebusse mit Sozialdemokraten aller Bundesländer den Festplatz in Vilshofen anfahren. Um kurz nach acht, knapp vier Stunden vor dem Auftritt des neuen Heilsbringers, bilden sich bereits lange Schlangen vor den Sicherheitsschleusen des riesigen Bierzelts. Wie vor einem Rock-Konzert.

 

Eine Genossin schwenkt ihr SPD-Fähnchen zu Trainingszwecken. „Ganz, ganz toll“ findet sie es, dass Schulz das jetzt macht. Und dass er das Thema „Soziale Gerechtigkeit“ wieder in den Mittelpunkt rückt, sei auch ganz dufte. Sie sagt „wieder“, so als habe zuvor Sigmar Gabriel in all den Jahren zuvor nur den Lobbyisten des Bundesverbandes der deutschen Industrie auf dem Schoß gesessen. Tatsächlich klingen aber Schulz-Reden passagenweise so, als habe er sie vom späten Gabriel, von dessen Reden im Januar, wörtlich abgeschrieben. Aber mag Schulz von Gabriel auch noch so abkupfern, der Unterschied zu Gabriel ist: die Genossen nehmen es Schulz ab.

Mehr Gäste als in früheren Jahren

Schon werden die ersten nervös, ob denn noch ein Platz zu finden ist in dem Bierzelt, das in diesem Jahr extra von 70 auf 100 Meter verlängert wurde und trotzdem ausgebucht ist. 5000 Leute finden nun hier an langen Biertischen Platz, zuvor waren es bei der SPD bestenfalls 3500. Ein Polizist in Zivil erwägt spaßeshalber, sich einen Hut mit Blaulicht aufzusetzen, um sich einen Vorteil beim Einlass zu verschaffen, und ein anderer hofft auf eine Videoleinwand, falls er ganz hinten sitzen sollte. So wird für die von Korruptions- und Missbrauchsgeschichten durchrüttelte Landes-SPD, die in Umfragen eher bei 10 als bei 20 Prozent gesichtet wird, dieser politische Aschermittwoch seit langem wieder mal ein Tag zum Feiern. Dieser rote Bulle verleiht für den Moment selbst den bayerischen Genossen Flügel.

Hertha Kretschmer, ihr Mann Peter und Gertrud Reuter sind schon um vier Uhr morgens aufgestanden, um rechtzeitig hier zu sein. Mit dem Bus sind sie gekommen, aus Wendelstein. Das ist ein fränkischer Ort, der, darauf legt Frau Reuter wert, „jahrzehntelang SPD-regiert“ war – bis dann auch dort ein CSU-Mann das Ruder übernahm. Auf dem Tisch stehen kurz nach 9 Uhr die ersten Bierkrüge, und das schon mit ziemlich seichter Befüllung – „normal in Bayern“, sagen sie. Reuter war zweite Bürgermeisterin, sie mag Sahra Wagenknecht. Herr Kretschmer mag Wagenknecht gar nicht, er steht auf Gerhard Schröder. In einem sind sie sich aber alle einig: Dass Schulz es macht, finden die Drei prima, man hatte mit Gabriel einen Niedergang befürchtet. „Ein genialer Schachzug Gabriels“, sagt Herr Kretschmer deshalb. Seine Frau hat nur wenige Stunden nach dem Verzicht Gabriels eine Mail an dessen Büro geschickt, um ihren Respekt zu bekunden.

Schulz lässt sich nicht ins Blatt schauen

Gabriel ist Geschichte, Schulz die von den Genossen gefeierte Verheißung auf eine bessere Zukunft. Der reist derzeit kreuz und quer durch Deutschland, will mit den Menschen ins Gespräch kommen und macht an diesem Vormittag Station in Niederbayern. Stets predigt Schulz dabei unter der Überschrift „Zeit für mehr Gerechtigkeit“, ohne dabei sich schon ins Blatt schauen zu lassen. Den Bezug von Arbeitslosengeld I will er verlängern, den Zeitraum lässt er offen. Das Rentenniveaus soll höher sein als geplant. Wie hoch, lässt er offen. Dem „Neoliberalismus“ will er die Stirn bieten und mehr investieren, in Pflege, in Bildung, in asphaltierte und digitale Verkehrswege. Aber wie er das machen will, vor allem, wie er die Rechnung bezahlen will, sagt er noch nicht. Klar, die Haushaltsüberschüsse sollen dafür herhalten. Aber das wird wohl nicht reichen.

Hier, in Vilshofen, scheren sich die Genossen nicht um Details, ihnen geht es um große Emotionen, das Gefühl, endlich wieder gewinnen zu können. „Hoch – die – internationale – Solidarität“ skandieren die Jusos, kurz bevor Schulz die Bühne entert, und viele Ältere schreien mit – wie in guten alten Zeiten.

Für Europa, gegen Abschottung

Der Kandidat macht das, was er zurzeit immer tut, nur lauter. Er preist mit donnernder Stimme Europa als friedensstiftenden Segen, als „Bollwerk gegen den Nationalismus und gegen Abschottung“. Deshalb empfinde er es auch als Kompliment, wenn man ihm vorwerfe, sich nur in Europa auszukennen: „Wer ins Kanzleramt will, der muss Europakompetenz haben“, sagt Schulz. Dann wettert er wie immer gegen den Ungarn Viktor Orban, der von der CSU hofiert werde, und gegen den US-Präsidenten Donald Trump, der mit seinen Attacken gegen Minderheiten, Frauen, Justiz und Medien Grundwerte in Frage stelle. Wer so handle, der lege „die Axt an die Wurzeln der Demokratie, ob er Präsident der USA ist oder bei einer Pegida-Demonstration mitmarschiert“. Auch den türkischen Präsidenten Erdogan knüpft er sich vor, unter dessen Regentschaft der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel in Haft sitzt. Statt in Deutschland Wahlkampf machen zu wollen, so Schulz, solle sich Erdogan „mehr um die Freiheit der Medien bemühen“.

Die Union handelt er mit ein paar launigen Sprüchen ab, total zerstritten seien CDU und CSU, ein Fall für den Scheidungsanwalt halt. Zugleich stellt er klar, dass er auf einen Wahlkampf, wie ihn Trump führte, verzichten wolle: „Auch im Bierzelt wird aus dem politischen Wettbewerber kein Feind. Wir kämpfen mit harten Argumenten, aber nicht mit persönlichen Beleidigungen oder Verunglimpfungen.“ Erneut erinnert er an seine Herkunft und seine Geschichte als Mann der zweiten Chance, der erst nach Abbruch der Schule und einer überwundenen Alkoholsucht den Aufstieg schaffte. Die SPD soll sich das Mitgefühl mit einfachen Menschen, das er mit dieser Vita zu demonstrieren versucht, zur handlungsleitenden Maxime machen. Die Menschen müssten „spüren, dass wir uns für sie interessieren“, müssten der SPD abnehmen, dass sie das Leben der Menschen „jeden Tag ein bisschen besser machen“ wolle. Kühles Verständnis reiche nicht aus. „Wenn wir das rüber bringen, dann liebe Genossinnen und Genossen, gewinnen wir die Wahl“, schreit Schulz, von der eigenen Zuversicht beseelt. „Martin, Martin, Martin“, brüllen sie da im Chor und wedeln wild mit ihren „Jetzt ist Schulz“-Pappen. Die Genossen hier glauben dran. Keine Zweifel mehr. Vorerst.