Unter dem Eindruck der Ereignisse in Chemnitz redet Lars Klingbeil Klartext: Die AfD sei ein Fall für den Verfassungsschutz. Bürger, die mit Rechtsextremen aufmarschieren, machten mit Nazis gemeinsame Sache. Und von Merkel sei ein Machtwort fällig.

Berlin - Lars Klingbeil hat sich am Wochenende selbst ein Bild von der Lage in Chemnitz gemacht. Im Interview erklärt er, was die SPD im Osten besser machen muss.

 

Herr Klingbeil, was läuft schief in Chemnitz und Sachsen?

In Sachsen, insbesondere in Chemnitz, versuchen Nazis, die Straßen zu erobern und die öffentliche Meinung zu bestimmen. Das darf die demokratische Mehrheit nicht einfach geschehen lassen. Ich kann wirklich nur an alle appellieren, denen ein friedliches Zusammenleben am Herzen liegt, laut zu sein und dagegen aufzustehen. Außerdem müssen die Vorgänge der letzten Wochen und Monate gründlich aufgearbeitet werden. Die Frage, ob und in welcher Intensität es in Sachsen eine gefährliche Nähe zwischen staatlichen Behörden und Rechtsextremen gibt, ist vom Ministerpräsidenten bisher nicht umfassend beantwortet worden. Auch die CDU in Sachsen muss ihre Vergangenheit aufarbeiten, sie ist viel zu lange auf dem rechten Auge blind gewesen und hat die Probleme mit Rassismus und Rechtsextremismus verharmlost.

Sie waren am Samstag bei der Demonstration. Was war Ihr Eindruck? Was muss politisch aus all dem folgen?

Die AfD hat gemeinsam mit Hooligans und Nazis in den vergangenen Tagen in Chemnitz gezeigt, wofür sie wirklich steht. Sie wollen ein Land, in dem jeder der anders denkt oder anders aussieht, Angst haben muss. Sie greifen Journalisten an. Sie schaden unserem Land. Das muss jedem klar sein.

Sollte angesichts der Ereignisse die AfD vom Verfassungsschutz überwacht werden?

Ja. Die AfD arbeitet in Sachsen und auch in anderen Bundesländern eng mit der rechtsextremen Szene zusammen. Wenn regelmäßig AfD-Politiker und ihr Umfeld NS-Verbrechen und rechte Gewalt relativieren, dann ist eine rote Linie überschritten. Der Verfassungsschutz sollte da sehr genau hinschauen.

Die SPD liegt in Sachsen bei zehn Prozent. In anderen Ostländern sieht es nicht viel besser aus. Warum hören Ihnen die Menschen nicht mehr zu?

Die Interessen und die Forderungen der Ostdeutschen müssen wir viel stärker in den Blick nehmen. Die Politik muss vor allem dafür sorgen, dass der Staat handlungsfähig ist und das Leben der Menschen einfacher macht. Viele haben da das Vertrauen verloren. In diese Lücken stoßen Rechtspopulisten und Nazis. Das fängt an bei der Frage, ob der Staat in der Lage ist, stabile Renten zu garantieren. Deshalb setzen wir uns auch gegen den massiven Widerspruch der Union für ein stabiles Rentenniveau bis 2040 ein. Aber die Frage gilt nicht nur für die sozialen Sicherungssysteme, sondern auch für das Alltagsleben. Wenn Nazis beispielsweise als einzige vor Ort die Hausaufgabenhilfe organisieren, wurde das möglich, weil der Staat sich zurückgezogen hat und das Gemeinwohl zu häufig privat organisiert werden muss. Das müssen wir ändern.

Was passiert mit unserer Demokratie, wenn in Sachsen oder Thüringen im nächsten Jahr nur noch AfD-Abwehrbündnisse aus vier völlig unterschiedlichen Parteien – CDU, SPD, Grüne, FDP - möglich werden?

In den nächsten Jahren wird der Kampf um unsere Demokratie entschieden. Das muss allen Demokraten spätestens seit Chemnitz klar sein. Und keiner sollte glauben, dass die Welt in Westdeutschland eine gänzlich andere ist. Die Rechten werden überall immer stärker und lauter. Und deshalb muss jetzt die schweigende Mehrheit, die in diesem Land demokratisch denkt, laut werden und für ihre Werte eintreten. Die Zeit, in der wir uns zurücklehnen können, ist vorbei.

Wollen Sie in dieser Auseinandersetzung AfD-Wähler gewinnen oder geben Sie die verloren?

Viele AfD-Wähler sehen sich selbst als Protestwähler und haben die Erwartung, dass die anderen Parteien aus Fehlern lernen. Aber wer in Chemnitz gemeinsam mit gewalttätigen und rassistischen Nazis auf die Straße geht und dabei den Hitlergruß als angeblich harmlose Geste hinnimmt, der kann sich nicht mehr rausreden. Der macht mit Nazis gemeinsame Sache.

Wird die CDU im Osten früher oder später mit der AfD koalieren?

Die CDU muss dringend ihr Verhältnis zur AfD klären. Wir mussten zuletzt erleben, dass die CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer sich nicht im Stande sah, ein Bündnis mit diesen rechten Brandstiftern auszuschließen. Deshalb muss man die Befürchtung haben, dass in der CDU-Parteizentrale über solche Bündnisse intensiv nachgedacht wird. Ich erwarte von der CDU eine klare Aussage, dass man mit der AfD keine Koalition eingehen wird. Jede demokratische Partei muss sich deutlich von Rechtspopulisten und Demokratiefeinden abgrenzen – gerade nach den Ereignissen der vergangenen Tage.

Erwarten Sie da von der CDU-Vorsitzenden ein klares Wort?

Ich hoffe, dass Merkel die Kraft hat, die Spekulationen über CDU-Bündnisse mit der AfD schnell zu beenden.

Und wie bewerten Sie die Avancen des schleswig-holsteinischen CDU-Ministerpräsident Daniel Günther an die Linke?

Das ist ein reines Ablenkungsmanöver, um keine AfD-Debatte führen zu müssen. Außerdem zeigt auch dieser Vorstoß, dass die CDU bereit ist, für den Machterhalt alle Prinzipien aufzugeben.

Ihr parlamentarischer Geschäftsführer Carsten Schneider hat wissen lassen, dass die SPD zum Bruch bereit wäre, wenn die Union in der Regierung nicht spurt. Ist das bei 18 Prozent in Umfragen mehr als nur ein Pfeifen im Walde?

Vor der Sommerpause mussten wir wochenlang einen angstgetriebenen, irrationalen Unionsstreit über Flüchtlinge ertragen. In letzter Zeit hat sich die Union vor allem damit hervorgetan, die in der Koalition vereinbarten sozialpolitische Vorhaben zu blockieren. Deshalb hat Carsten Schneider völlig recht: Wenn die Union ihre ausschließliche Fixierung auf die Flüchtlingspolitik nicht aufgibt, dann wird es kritisch. Die Menschen erwarten Ergebnisse und eine Politik, die die Zukunft anpackt. Ein Beispiel: Mich sprechen viele an, weil sie darauf warten, dass das Zeitalter der Digitalisierung endlich in unseren Schulen ankommt. Dafür haben wir klare Verabredungen. Aber von CDU-Bildungsministerin Anja Karliczek habe ich das letzte Mal etwas dazu gehört, als sie vereidigt wurde. Da geht nichts voran und das ist nicht gut.

Volker Kauder muss bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden mit einem Gegenkandidaten rechnen. Was bedeutet das für die Koalition?

Die Machterosion, die bei Kauder zu beobachten ist, zeigt, dass in der CDU der Kampf um die Zeit nach Angela Merkel begonnen hat. Ich hoffe sehr, dass diese internen Kämpfe die Union nicht wieder wochenlang handlungsunfähig machen.

Am Dienstag wird die linke Wagenknecht-Bewegung „Aufstehen“ gegründet. Simone Lange wird mit auftreten. Sind Sie in Sorge, dass ihr viele andere Genossen folgen?

Ich sehe da bisher keine Bewegung, sondern nur eine Homepage, auf der man ein paar Videos anklicken kann. In welche Richtung sich das politisch entwickelt, ist völlig offen. Wenn ich mir Sahra Wagenknechts reaktionäre Aussagen zur Flüchtlingspolitik anhöre, dann ist das für mich jedenfalls alles andere als links. Was wir stattdessen brauchen, sind ernsthafte Gespräche zwischen Grünen, Linken und der SPD über ein progressives rot-rot-grünes Regierungsprojekt.