Der SPD-Generalsekretär stellt sich im Interview Fragen zum Frust über die Ampel und über den Erfolg der AfD. Kevin Kühnert kritisiert CDU-Chef Friedrich Merz scharf. Und er bringt eine Forderung ins Spiel, die jungen Menschen im Sommer helfen soll.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert räumt ein, in der Ampelkoalition sei es zuletzt oft wie bei „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ zugegangen. Im Interview spricht er darüber, was seine Botschaft an Menschen ist, die aus Protest AfD wählen.
Herr Kühnert, welche Mitschuld tragen Sie am Erfolg der AfD?
Ich persönlich?
Sie, die SPD, die Ampel: Suchen Sie sich etwas aus.
Den Schuh ziehe ich mir nicht an. Ob die SPD, die Ampel oder auch ich persönlich: wir alle müssen uns immer wieder die Frage stellen, wo wir Erwartungen enttäuscht und Fehler gemacht haben. Aber Fehler führen nicht dazu, dass Menschen – wie durch eine Art chemische Reaktion ausgelöst – ihre Stimme der AfD geben müssen. Verantwortlich für die Stärke der AfD sind diejenigen, die AfD wählen. Alles andere wäre ja eine Entmündigung der Wähler.
Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sagt, bei den guten Werten für die AfD sei viel Frust über den Dauerstreit der Ampel dabei.
Streit gehört zur Demokratie. Wir haben aber zugelassen, dass Sinn und Zweck des Streits zu oft in den Hintergrund geraten sind: also das, worum in der Sache gerungen wurde. Stattdessen ging es wie bei „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ manchmal darum, wer gerade mit wem im Clinch liegt und wer am Ende gewinnt. Das war zum Abschalten und muss besser werden.
Sehen Sie also in den guten Werten für die AfD eher Protest? Oder haben wir es bei den Wählern mit einem handfesten Rechtsextremismus zu tun?
Es gibt beides. Wir haben nachweislich einen – gar nicht mal ganz kleinen – Anteil von Menschen mit geschlossen rechtsradikalen Weltbildern oder zumindest antidemokratischen Grundeinstellungen in der Gesellschaft. In Deutschland war es lange Zeit so, dass es für diese Menschen kein politisches Angebot gab, das sie sich in großer Zahl zu wählen getraut hätten. Das ist offenkundig vorbei. Hinzu kommen die Denkzettel-Wähler, die mit ihrer Stimme für die AfD „denen da oben“ mal zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Für diese Menschen ist die AfD folglich auch deshalb attraktiv, weil wir die Partei ablehnen.
Was sagen Sie jemandem, der aus Protest AfD wählt?
Ich sage ihm ruhig und klar, dass er sich selbst schadet. In der Demokratie ist es legitim, einen Denkzettel zu verteilen. Wer aus Protest AfD wählt, handelt aber wie jemand, der mit seinem Arzt unzufrieden ist – und daraus die Konsequenz zieht, sich selbst mit einem Messer in den Arm zu schneiden. Die AfD greift unsere Demokratie und damit die Grundlage an, auf die jede redliche politische Idee angewiesen ist.
Das reicht nicht, um Menschen zurückzugewinnen.
Das allein reicht nicht, aber die demokratische Selbstachtung erfordert es, diese Wahrheit auszusprechen. Daneben gehört auf die Agenda, dass die AfD bei wesentlichen Alltagsfragen – von der Frage nach fairen Löhnen über bezahlbare Mieten bis hin zu einem gerechten Steuersystem – keine Antworten hat. Oder nur solche, die nicht den Interessen der Beschäftigten dienen. Die eh schon niedrigen Steuern auf riesige Vermögen möchte die AfD beispielsweise komplett abschaffen. Das sollten Arbeiter wissen, denn sie würden es sein, die dieses Steuergeschenk bezahlen müssten.
CDU-Chef Friedrich Merz hat eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene erst nicht mehr ausgeschlossen. Jetzt rudert er zurück. Kommen Sie noch mit?
Wie soll der SPD-Generalsekretär noch mitkommen, wenn nicht mal die CDU versteht, was ihr Vorsitzender sagen will? Söder, Wegner und Röttgen stellen sich jetzt gegen Merz, Linnemann und Klöckner unterstützen ihn. Der Richtungskampf in der Union ist in vollem Gange. In der gesamten Debatte geht es übrigens nicht darum, ob die demokratische Wahl eines AfD-Landrates zu akzeptieren ist, wie Merz uns glauben machen will. Das stellt niemand infrage. Es geht vielmehr um eine ganz einfache Frage: Ist die Zusammenarbeit mit Rechtsextremen für die CDU ein Tabu, oder nicht? Die Schwierigkeit des Herrn Merz, hierauf mit Ja oder Nein zu antworten, bereitet mir als Demokrat echte Sorgen.
Drohen im Osten im kommenden Jahr Länder durch sehr starke AfD-Ergebnisse fast schon unregierbar zu werden?
Auf Grundlage der Umfragen gilt in Teilen des Ostens: Um überhaupt noch Mehrheitsregierungen zu ermöglichen, wird die CDU wohl über einen ihrer ideologischen Gräben springen müssen. Und wenn ich beispielsweise die Dynamiken in der Thüringer CDU verfolge, mache ich mir große Sorgen, in welche Richtung sie springen wird. In Erfurt hat die AfD bereits CDU-Anträgen zur Mehrheit im Parlament verholfen. Ich glaube vielen an der Spitze der CDU, dass sie ihre Partei nicht in die Arme der AfD treiben wollen. Aber welche Hausmacht haben sie denn vor Ort in Thüringen? Dort geht es konkret um die Frage, ob man im Fall der Fälle lieber mit dem Demokraten Ramelow Kompromisse sucht, oder mit dem Faschisten Höcke. Dass diese Frage seit Jahren unbeantwortet bleibt, ist bezeichnend und lässt nichts Gutes erahnen.
Sehen Sie die Union als Volkspartei, die auch einen Teil des Spektrums rechts der Mitte abdeckt, in der Pflicht, der AfD Wähler abzujagen?
Friedrich Merz ist mit dem Satz angetreten, er wolle die AfD halbieren. Den würde er heute vermutlich nicht noch mal wiederholen. Die AfD-Wähler sind eigenständige Menschen. Man kann nicht mit einer bestimmten Politik erzwingen, dass sie etwas Anderes wählen. Europäische Beispiele zeigen aber klar: Wenn sich konservative Demokraten auf die Rechtsradikalen zu bewegen oder gar Bündnisse mit ihnen schmieden, dann wird der rechte Rand dadurch nicht geschwächt. Im Gegenteil.
Macht die Union einen guten Job als Oppositionspartei gegen die Ampel?
Es gab Ansätze. Einige Debatten – gerade, als es um die Energiepreise im vergangenen Jahr ging – haben sich wesentlich um die Alltagssorgen der Menschen gedreht. Das ist jetzt leider komplett anders. Ich erlebe eine unglaubliche Nervosität in der Union, in der manche geradezu manisch auf das Thema AfD fixiert sind. Die fragen sich dann bei jeder Debatte zuerst: „Was denkt und sagt die AfD? Wie können wir darauf reagieren?“ Das muss aufhören. Wir dürfen eine Partei, die bei der letzten Bundestagswahl 10,3 Prozent geholt hat, nicht zum Maßstab jeder politischen Debatte machen. Die CDU sollte aufhören, sich als stolze demokratische Partei so klein zu machen.
Übertreiben Sie jetzt nicht?
Überhaupt nicht. Wann hat die Union zuletzt einer anderen Bevölkerungsgruppe so viel Aufmerksamkeit zukommen lassen wie denjenigen, die AfD wählen? Viele Menschen im Niedriglohnsektor oder auch Mieter mit steigenden Wohnkosten hätten sich gefreut, wenn die CDU ihre Sorgen mal vergleichbar ernst genommen hätte.
Was ist das Wichtigste, das Sie in den vergangenen eineinhalb Jahren als Generalsekretär der größten Regierungspartei dazu gelernt haben?
Man muss es sich in diesem politischen Hochgeschwindigkeitsbetrieb gelegentlich verbieten, sofort zu allem ein Statement abzugeben. Verkneifen wir uns den erstbesten Kommentar, dann bleiben der politischen Debatte viele unausgegorene Gedanken erspart. Das ist mir nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine besonders aufgefallen. Damals ist viel Unruhe entstanden, auch weil Sätze wie: „Das kann ich im Moment noch nicht beantworten“ leider nicht en vogue waren.
Fällt es im Job des Generalsekretärs nicht schwer zu schweigen?
Zwischen Schweigen und Pausenclown spielen gibt es ja glücklicherweise noch ein paar Schattierungen. Ich möchte als Politiker jedenfalls nicht wie ein Tennisspieler agieren, der einfach nur jeden Ball routiniert wegretourniert, der ihm von der Ballmaschine zugeworfen wird. Diesen Teil des Politikerjobs kann bald auch eine Künstliche Intelligenz übernehmen.
Als Generalsekretär müssen Sie Kanzler Olaf Scholz verteidigen. Hätte der Juso-Chef Kevin Kühnert Verständnis für die Nöte des Generalsekretärs Kevin Kühnert gehabt?
Professionell hätte der Juso-Chef Kevin Kühnert Verständnis für die Nöte des Generalsekretärs Kevin Kühnert gehabt. Aber er hätte ihn trotzdem keinen Millimeter geschont. So muss das auch sein.
Teile des Landes sind schon in den Sommerferien, andere warten sehnsüchtig darauf. Hatten Sie früher als Schüler einen Ferienjob?
Ja. Mein Ferienjob als Schüler war unter anderem, in Baumärkten Inventur zu machen. Ich habe unendlich viele Schrauben gezählt. Das war eine, sagen wir mal, sehr meditative Aufgabe. Und wenn man sich verzählt, muss man wieder von vorn anfangen. Ich war 17 und wollte mir für Fußball-Touren mit Freunden ein bisschen Geld dazuverdienen.
Minderjährige Ferienjobber haben keinen Anspruch auf Mindestlohn. Wird die Ampel das ändern?
Für die SPD ist klar: Auch Minderjährige sollten Anspruch auf den Mindestlohn haben. Die Ausnahme beim Mindestlohn für unter 18-Jährige ist eine nicht begründbare Verzerrung. Wir sollten sie schnellstmöglich abschaffen, das ist mein Appell. Damit können wir auch mehr Gerechtigkeit für viele Ferienjobber herstellen. Dass in Annoncen im Internet teils gezielt nach Minderjährigen gesucht wird, weil man sie für neun oder zehn Euro die Stunde arbeiten lassen kann, finde ich unerhört. Die 16-Jährige, die im Biergarten Bierkrüge an die Tische bringt, leistet die exakt gleich wertvolle Arbeit wie der 20-Jährige, der das tut. Der Mindestlohn ist eine Frage des Respekts für die geleistete Arbeit – unabhängig vom Alter.
Sie selbst zieht es in den Ferien zum Wandern in die Berge. Machen Sie da auch mal längere Zeit das Handy aus?
Nein, mein Handy bleibt auch im Urlaub an. In meiner politischen Position bin ich immer in Rufbereitschaft. Nur weil das Handy an ist, muss man ja nicht den ganzen Tag dranhängen. Ich kann mich trotzdem gut erholen.
Das Gespräch führte Tobias Peter.