Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat den Sozialdemokraten zwar neues Selbstbewusstsein gegeben, sinkt aber in den Umfragewerten immer weiter ab. Der 61-Jährige setzt auf die noch unentschlossenen Wähler – mit Erfolg?

Berlin - Der Schwarze nervt. Was immer Martin Schulz auch sagt, ständig kläfft er dazwischen, so als sei dieses Hundeknäuel in parteipolitisch passender Färbung persönlich von der Union entsandt – als eine Art Schallwaffe der CDU. So scherzen die Genossen, die der kleinen Nervensäge am nächsten stehen. Der erstaunlich guten Laune tut das keinen Abbruch, zumal sich das Hündchen vermutlich einfach nur fürchtet, weil der Mann da vorne ständig so brüllt und über eine Frau schimpft, die Angela Merkel heißt. Als eine Wespe sich dem Podium nähert, wähnt Schulz ebenfalls die Natur mit dem Gegner im Bunde: „Die hat die CDU geschickt.“

 

Heiteres Lachen, Applaus. Man kann sagen, was man will, aber die Genossen können was wegstecken, jedenfalls die hier in Bochum. Wer glaubte, die Freunde der SPD seien angesichts mieser Umfragewerte von Lethargie zerfressen, der muss sich wundern über die trotzige Stimmung, die der SPD-Kanzlerkandidat in diesen Tagen bei Wahlkampfauftritten aufsaugt. In Bochum hat die SPD den Konrad-Adenauer-Platz für Schulz ausgesucht, ausgerechnet. Die Jusos haben die Fläche kurzerhand mit einem blauen Plastik-Straßenschild in Martin-Schulz-Platz unbenannt. Gut zwei Stunden harren die rund 2500 zum Teil schon recht betagten Besucher bei schwülem Wetter aus – mehr als erwartet. Das war schon in Göttingen so, in Bremen, in Trier, an all den Orten, wo sich Schulz bisher blicken ließ. Das ist der Strohhalm, an den sich Schulz klammert. Diese Nahkampferfahrung, dieser Zuspruch, diese nach wie vor ungebrochene Geschlossenheit. Wohl auch deshalb hat er sich getraut, jetzt schon seinen Anspruch anzumelden auf weitere zwei Jahre als Parteichef – egal, wie die Wahl ausgeht.

Gerechtigkeit ist sein Leitmotiv

Viel Neues erfährt man nicht bei seinen Wahlkampfauftritten, aber darum geht es nicht. Es geht darum, die eigenen Leute aufzurütteln, auf dass diese Freunde und Bekannte davon überzeugen, am 24. September ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Von Gerechtigkeit redet Schulz, seinem Leitmotiv, vom Kampf für Europa und gegen die AfD, die er eine „rechtsextreme Bande von Hetzern“ schimpft. US-Präsident Donald Trump knöpft er sich vor, dem „jede Niedertracht“ recht sei und dem man sich „in klaren deutschen Hauptsätzen in den Weg stellen“ müsse, statt, wie die Kanzlerin, in diplomatischer Zurückhaltung zu verharren. Milliarden in Bildung will Schulz investieren, statt Trumps Forderung zu folgen, die Bundeswehr aufzurüsten. Dass dies keineswegs eine Trump-Forderung, sondern ein vom ehemaligen SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier einst unterstütztes Nato-Ziel ist, ficht ihn nicht an. Diese Pointe will er sich nicht vermasseln lassen.

Respekt fordert Schulz ein, etwa für den Polizisten, der den Stadionbesuch in der Fußball-Bundesliga absichert. Diesem gebühre ebenso Anerkennung wie dem Starkicker, der womöglich an einem Tag so viel verdiene wie der Ordnungshüter in einem ganzen Jahr. Einiges von dem, was Schulz brandmarkt, hat die SPD zwar unter Kanzler Gerhard Schröder selbst eingeführt, aber das kümmert ihn nicht. Schnee von gestern, beschlossen in einer Zeit, in der Deutschland unter fünf Millionen Arbeitslosen litt, nicht mehr zeitgemäß in Jahren niedriger Arbeitslosigkeit und Rekordüberschüssen. Immer dann, wenn er in Sachen Agenda 2010 den Rückwärtsgang einlegt, geben die jubelnden Genossen das klare Signal: „Vorwärts marsch“. Also weg mit der ungleichen Bezahlung von Leiharbeit und mit befristeten Verträgen.

Er hört nicht mehr auf die Spin-Doktoren, die nie die Konsequenzen tragen müssen

Vor allem aber greift er seit einigen Wochen die Kanzlerin direkt an, wirft ihr vor, sich, beispielsweise in der Rentenpolitik, jeder Debatte zu verweigern, Sozialreformen zu blockieren, Europa aufs Spiel zu setzen, in der Dieseldebatte zu lavieren. Martin Schulz brüllt so laut, so voller Pathos, dass man meinen könnte, Angela Merkel steuere mit diabolischer Finesse das Land in den Untergang. Nicht alle in der SPD glauben deshalb, dass diese Masche Erfolg verspricht. Aber er hat sich nun mal vorgenommen, nur noch seinem Instinkt zu gehorchen – und nicht mehr auf die sogenannten Spin-Doktoren zu hören, die ihm mal dies, mal das empfehlen, aber nie die Konsequenzen tragen müssen.

Funktioniert ja auch im Kreise der eigenen Familie. Seine milliardenteuren Rentenversprechen werden jedenfalls ebenso frenetisch bejubelt wie seine Schelte der Automanager, die einen ganzen Industriezweig in Gefahr brächten – wobei er sich mittlerweile nach heftigen Protesten des Golfspielerverbandes die Pointe verkneift, ihn interessierten „Golffahrer“ mehr als „diese Golfspieler“ an der Spitze der Konzerne. Zum symbolischen Friedensschluss kommt es, als sich nach der Rede ein Golfer in Wettkampfmontur von Martin Schulz einen Golfball signieren lässt.

Endlich mal wieder ein Parteichef, der nicht alles in Basta-Manier vorgibt

Mitunter scheint es so, als sei seine Mission mittlerweile gar nicht mehr nur das Kanzleramt, sondern – über den Wahltag hinaus –, die Partei endlich wieder mit sich zu versöhnen. Klar, er sagt unverdrossen, er wolle Kanzler werden, alles andere käme ja einer Selbstaufgabe gleich. Aber die SPD kämpfe nicht für „irgendwelche Meinungsforschungsinstitute, ist mir alles egal was die schreiben, wir kämpfen für unsere Überzeugungen“. Da klatschen seine Anhänger dankbar, endlich mal wieder ein Parteichef, der ihnen nicht in Basta-Manier vorgibt, was sie alles zu schlucken haben, damit die SPD am Ende regieren kann, sondern einer, der zuallererst die sozialdemokratische Seele streichelt.

Dumm nur, dass immer dann, wenn die SPD mit sich im Reinen ist, kaum mehr als 25 Prozent drin sind. Und letztlich weiß Schulz, dass er eben am Wahlergebnis gemessen wird, weshalb er nichts mehr fürchtet als eine Anhängerschaft, die sich von den absackenden Umfragewerten am Ende entmutigen lässt. Am Abend nutzt er deshalb in der Tapas-Bar Coqorico in der Industriestadt Düren die Chance, rund 100 Menschen ins Gewissen zu reden, die sich ehrenamtlich engagieren. Da sitzen Gewerkschafter vor ihm, ein Zuhörer kämpft gegen Nazis im Fußball, eine Frau kümmert sich um Arbeitslose. Wenn sich Schulz eine Zielgruppe malen könnte, sie würde genauso aussehen wie die Runde, die drinnen geduldig in stickiger Luft ausharrt, obwohl sich draußen auf dem Marktplatz in den Cafés das Leben deutlich angenehmer gestalten ließe. Hier ist der 61-Jährige nah bei den Leuten, das kann er, da fühlt er sich sicher.

Das TV-Duell gilt als letzte Chance, Merkel zu stellen

Nichts sei entschieden, sagt er, noch seien in Bayern und Baden-Württemberg Ferien, rund 20 Millionen Menschen im Urlaubsmodus, in Gedanken fernab aller politischen Debatten. Solle sich deshalb keiner einreden lassen, die Wahl sei gelaufen. Jetzt erst sei Showtime. Fast die Hälfte der Wähler sei unentschlossen, auf die habe er es abgesehen. Klar, die Union inszeniere Merkel als Kanzlerin, „die im Regierungsflugzeug mit den Großen der Erde in Kontakt ist“, und tue so, als sei er, der einstige Bürgermeister und EU-Parlamentspräsident, nur „der Grillkönig von Würselen“. Aber die Menschen wüssten sehr genau, dass über die Renovierung von Schulen, Probleme bei der Pflege oder die Zukunft der Rente am Ende „nicht in der Air Force One“ entschieden werde.

Die Menschen hören Schulz, in Düren und anderswo, gerne zu, er kann, wenn er nicht zu laut wird, einnehmend sein, leidenschaftlich, witzig. Deshalb setzen die Genossen ja auch so große Hoffnung auf das TV-Duell am nächsten Sonntag (20.15 Uhr, live in ARD, ZDF, RTL und Sat 1). Die Auseinandersetzung gilt als letzte Chance, Merkel zu stellen, wo doch alle Attacken bisher folgenlos blieben.

Intern werden an der Parteispitze drei Szenarien diskutiert

Kein Zweifel: Schulz, zum Parteichef gewählt mit 100 Prozent der Stimmen, hat die Partei noch immer auf seiner Seite. Trotz all der Niederschläge, die er nach kurzem Zwischenhoch erdulden musste. Aber das muss nicht so bleiben, wenn die SPD am 24. September erneut abschmieren sollte. Intern werden an der Parteispitze drei Szenarien diskutiert. Sollte Schulz schlechter abschneiden als Frank-Walter Steinmeier 2009 und unter 23 Prozent fallen, dann heiße es „Bye-bye Martin“. Lande die SPD zwar über 23 Prozent, aber noch unter dem Ergebnis von Peer Steinbrück 2013 (25,7 Prozent), dann werde es zwar „schwierig“, aber wenn Schulz wolle, könne er sich womöglich trotzdem als Parteichef halten, wenn auch nur als Mann des Übergangs.

Sollte er das Ergebnis verbessern, dann werde ihn die Partei weiter tragen, heißt es, dann erhalte er womöglich sogar ein Mandat zur Fortführung der so verhassten großen Koalition. Seine politischen Überlebenschancen sind also, auch wenn er nicht Kanzler wird, gar nicht mal so schlecht. Zumal es keine Besserwisser gibt, die nach der Wahl behaupten können, immer schon mahnend den Finger gehoben zu haben. Auch das Wahlprogramm wurde einstimmig verabschiedet. Alle säßen diesmal im selben Boot, sollte dieses am Wahlabend abermals kentern.

Erstaunlich gelassen wirkt Schulz – nicht mehr so verbissen wie im Frühsommer

Schulz wird solche Überlegungen bestenfalls zur Kenntnis nehmen. Er ist in jenen Tunnel abgetaucht, der alle Spitzenkandidaten erst am Abend des 24. September wieder freigibt. Erstaunlich gelassen wirkt er, mit sich im Reinen, nicht mehr so verbissen wie noch im Frühsommer. Als er in Düren aus dem Auto steigt, fernab aller Kameras, spricht ihn ein Mann an, der sein Fahrrad aus der Fußgängerzone schiebt, seine kleine Tochter an der Hand. „Toi, toi, toi, Herr Schulz, Sie schaffen das“, sagt er. Der Kandidat bedankt sich, lächelt, dann eilt er zu den wartenden Gästen. „Wer war das?“, fragt das Mädchen, als die beiden von dannen ziehen. „Der zukünftige Bundeskanzler“, antwortet der Vater. Schulz ist da schon verschwunden, er hört das nicht mehr. Er würde es wohl eh kaum glauben.