Martin Schulz könnte wieder ein wenig Zugkraft für die SPD entwickeln – doch sein Name hätte viel früher fallen müssen. Gabriels später Rückzug hat die Partei schwer getroffen. Sie wird Zeit und Kraft brauchen, um sich zu sortieren, meint Christopher Ziedler.

Stuttgart - Er hat alle überrascht. Auch diese Zeitung hat in den vergangenen Tagen und Wochen keine Fake-News verbreitet, als sie aus den inneren SPD-Zirkeln berichtete, es laufe in der Frage der Kanzlerkandidatur auf Sigmar Gabriel hinaus. So gut wie alle in der Partei gingen davon aus, so offensichtlich schienen die Signale. Nun jedoch hat Gabriel die einzig richtige Konsequenz aus seinen möglicherweise ungerechten, aber doch fraglos miserablen Zustimmungswerten gezogen. Er mag ein gestandenerer Sozialdemokrat und in der großen Koalition erfolgreicher sein, als das manche wahrhaben wollen, das hässliche Bild aber, das von ihm gezeichnet worden ist, scheint fertig und kaum mehr veränderbar. Viele potenzielle SPD-Wähler glauben Gabriel schlicht nicht mehr.

 

Martin Schulz, der nun am 24. September Angela Merkel herausfordert, gilt im Vergleich zu Gabriel als authentischer, glaubwürdiger und zumindest innenpolitisch unverbrauchter. Das ist in Zeiten, da die Skepsis gegenüber vermeintlich geschlossenen Machtzirkeln Wahlen entscheidet, nicht wenig. Ob Schulz dabei jedoch als der überzeugte Europäer wahrgenommen wird, der den politisch und sozial gespaltenen Kontinent wieder zu einen hilft, oder als für die Misere mitverantwortlicher Eurokrat, muss sich noch weisen. Kämpfen aber kann er, dazu pflegt er eine klare Sprache.

Die SPD hat keine Antwort auf die Globalisierung

Es sagt eine ganze Menge aus über den Zustand der SPD, dass ein 61-Jähriger, der auch als Nicht-Innenpolitiker regelmäßiger Talkshowgast in deutschen Wohnzimmern war, nun zum großen Hoffnungsträger stilisiert wird. Sie kann sich im Angesicht demütigender Umfragewerte nur damit trösten, dass es sich nicht um ein deutsches Phänomen handelt, sondern auch international seit zwei Jahrzehnten eine sozialdemokratische Antwort auf die Globalisierung fehlt. Zu Beginn war es ein Erkenntnisproblem: Vom globalen Wettbewerb diktierte Kürzungen im Sozialsystem vorzunehmen oder sie allenfalls ein wenig mehr abzufedern als die Konkurrenz hat die eigene Klientel erschüttert. Gravierender aber war das anschließende Umsetzungsproblem. Nach der Finanzkrise dämmerte es zwar den Letzten, dass eine gerechtere weltweite Architektur nötig ist, doch die meisten Reformbemühungen blieben auf halbem Wege stecken. Mehr und mehr Menschen suchen nicht mehr links nach Lösungen, sondern rechts – bei Abschottung und Nationalismus.

Die SPD mit Schulz an der Spitze steht vor einer Herkulesaufgabe, will sie ihren Teil zur Trendumkehr beitragen. Der Kandidat startet mit zusätzlichem Ballast – eben weil der Soloritt des Nochvorsitzenden seine Partei älter aussehen lässt, als sie ohnehin schon ist. Der Name Schulz, der tatsächlich am ehesten wieder ein wenig Zugkraft für die SPD entwickeln könnte, hätte viel früher fallen müssen. Nach Wochen und Monaten, in denen es für die meisten Parteimitglieder so glatt auf Gabriel zuzulaufen schien, kommt sein Rückzug als weiterer schwerer Schlag für eine bereits angezählte Partei daher. Es wird Zeit brauchen, um das Chaos zu sortieren – Zeit, die für die so wichtige inhaltliche Ausrichtung für die Bundestagswahl fehlen könnte.

Mangelnde Regierungserfahrung als Pluspunkt?

Schulz soll sich als Parteichef und Kanzlerkandidat ganz auf den Wahlkampf konzentrieren, ohne Regierungsamt. Den Außenminister gibt nun in politisch maximal herausfordernder Zeit der Vizekanzler selbst, um Schulz parteipolitischen Spielraum außerhalb der großen Koalition zu gewähren. Dafür wird sich Merkels Herausforderer nun ständig anhören müssen, über keinerlei Regierungserfahrung zu verfügen. Oder gilt er damit in Zeiten von Fake-News und Elitenfeindlichkeit nicht nur in den USA, sondern auch schon in Deutschland gar als besonders geeignet? Wenn das Wahljahr so überraschend endet, wie es anfängt, ist auch das möglich.