Vor den Toren Berlins will Sigmar Gabriel der SPD bei einer Vorstandsklausur neue Zielgruppen schmackhaft machen. Den Parteichef holen dabei allerdings alte Probleme ein.

Berlin - Verregnet und kalt ist es auf dem idyllisch gelegenen Landgut A. Borsig vor den Toren Berlins, ganz und gar nicht behaglich. Der SPD-Vorstand ist hier in Klausur gegangen – Standortbestimmung und Selbstvergewisserung zu Beginn des Jahres. Die Stimmung ist regenverhangen und kühl wie das Wetter. Es ist nicht so, dass sich offener Widerstand gegen den zuletzt intern in die Kritik geratenen SPD-Chef Sigmar Gabriel formieren würde, dazu sind die Diskussionsrunden mit Gästen wie Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, Meinungsforschern und Wirtschaftswissenschaftlern auch gar nicht geeignet. Dennoch liegt über allem hier ein Schleier der Unzufriedenheit und der Verunsicherung, und das nicht nur wegen umstrittener Aktionen Gabriels, etwa dem Besuch einer Veranstaltung mit Pegida-Anhängern oder seinem Satz, es gebe „ein Recht deutschnational zu sein“.

 

In der Regierung hat sich die SPD, so jedenfalls formuliert es ein Vorstandsmitglied, mit der Einführung etwa des Mindestlohns oder der Rentenreform „zu Tode gesiegt“, gleichwohl bleiben die Umfragen mies wie eh und je. Kanzlerin Angela Merkel dominiert das alles überlagernde Feld der Außenpolitik. Und dann ist da auch noch der Fall Edathy, der für die SPD so lange eine Belastung bleibt, so lange nicht klar ist, wer den ehemaligen Bundestagsabgeordneten vor den Kinderpornografie-Ermittlungen gewarnt hat. Seit der SPD-Abgeordnete Michael Hartmann, den Sebastian Edathy als Tippgeber benannt hatte, im Untersuchungsausschuss weitere Aussagen verweigert, ist die Stimmung noch angespannter.

Fraktionschef Oppermann gerät erneut in den Fokus

Gabriel fordert Hartmann am Rande der Klausur auf, dieses Schweigen zu brechen. „Natürlich hilft uns das nicht“, sagt er, „natürlich ist das eine schwierige Lage“. Die Causa Edathy, so Gabriel, sei zwar kein offizieller Tagungsordnungspunkt auf der Klausur. Aber „die allgemeine Auffassung ist garantiert, dass wir uns wünschen würden, dass Michael Hartmann aussagt.“ Das Problem der SPD liegt auf der Hand. Edathy, davon ist man auch im Kreis der Genossen überzeugt, sei wohl tatsächlich gewarnt gewesen, von wem auch immer. Hartmann bestritt bis zu seiner Aussageverweigerung alle Vorwürfe. Zugleich hat der Ex-Chef des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, im Untersuchungsausschuss recht glaubwürdig beteuert, nicht Hartmanns Informant gewesen zu sein. Edathy behauptet aber, Hartmann habe stets auf Ziercke als Quelle aller Infos verwiesen. Die Frage, die bleischwer auf der SPD lastet, ist: wenn es Ziercke nicht war, wer dann?

Die SPD-Spitze war frühzeitig am Rande der Koalitionsverhandlungen vom ehemaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich informiert worden. Vor allem Fraktionschef Thomas Oppermann gerät erneut in den Fokus, weil dieser im November Hartmann gebeten haben will, sich um Edathy zu kümmern. Oppermann bestreitet aber, Hartmann in diesem Zusammenhang über Kinderporno-Vorwürfe informiert zu haben. Bisher gibt es keine Belege, die Oppermann widerlegen. Aber Gabriel weiß, dass Gegner der SPD im Zweifel keine Beweise benötigen. Hartmanns Schweigen befördere „Verschwörungstheorien“, sagt er. Und die kann Gabriel nun wirklich nicht gebrauchen.

Gabriel nimmt die „gehetzte Mitte“ in den Blick

Die Situation ist so schon kompliziert genug. Gabriel, im Hauptberuf derzeit Wirtschaftsminister, hat sich vorgenommen, die SPD als Parteichef wieder in die Mitte zu rücken. Aber bisher dringt er damit in den eigenen Reihen nicht durch. Neue Wählerschichten will er erschließen, die „gehetzte Mitte“ hat er im Blick, jene 30- bis 50-Jährigen, die zwar nicht schlecht verdienen, die aber mit den vielen, sich zum Teil widersprechenden Herausforderungen des Alltags kaum mehr fertig werden. Kinder erziehen, Pflege der Eltern organisieren, fürs Alter vorsorgen und dazwischen irgendwie auch noch ein wenig Spaß haben: das, so die Überzeugung Gabriels, ist die Lebenswirklichkeit vieler. Die SPD biete auf die Fragen dieser Menschen kaum Antworten. Das will Gabriel ändern, einen Diskussionsprozess einleiten, am Ende sollen die Ergebnisse das nächste Wahlprogramm prägen. Konkretes wurde auf dieser Klausur noch nicht beschlossen. Man stehe da erst am Anfang der Debatte, hieß es.