SPD-Chefin Andrea Nahles hat ihren Rücktritt als Parteivorsitzende und Fraktionschefin der Sozialdemokraten angekündigt.

Berlin - Eine Woche nach dem historischen Debakel der SPD bei der Europawahl hat Andrea Nahles ihren Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin angekündigt. „Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist“, schrieb Nahles am Sonntag an alle SPD-Mitglieder. Wer ihr nachfolgt, ist noch unklar. Der Machtwechsel in der SPD könnte auch die Große Koalition ins Wanken bringen.

 

Nahles schrieb, sie werde am kommenden Montag im Parteivorstand ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende und am Dienstag in der Fraktionssitzung ihren Rücktritt als Vorsitzende der SPD-Bundestagsabgeordneten erklären. „Damit möchte ich die Möglichkeit eröffnen, dass in beiden Funktionen in geordneter Weise die Nachfolge geregelt werden kann.“ Nahles wird auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich damit voraussichtlich komplett aus der Bundespolitik zurückziehen.

Die SPD hatte bei der Europawahl mit 15,8 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl eingefahren und war von den Grünen erstmals als zweitstärkste Kraft abgelöst worden. Bei der Landtagswahl in Bremen gab sie zudem nach 73 Jahren ihre Spitzenposition ab.

Wenig Rückhalt

Nahles war nach dem Desaster stark unter Druck geraten. Daraufhin hatte die 48-Jährige angekündigt, in der Fraktion mit einer vorgezogenen Vorsitzenden-Neuwahl die Machtfrage zu stellen. Bei einer Sonderfraktionssitzung am Mittwoch war deutlich geworden, dass sie für diesen Schritt wenig Rückhalt hatte.

Nahles war nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2017 Fraktionsvorsitzende geworden und war im April 2018 als erste Frau an die Spitze der SPD gewählt worden. Diesen Posten hat sie erst gut 13 Monate inne.

Sie hatte sich dafür eingesetzt, nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine „Jamaika-Koalition“ von Union, Grünen und FDP wieder in eine Große Koalition einzutreten. Die Entscheidung ist in der Partei bis heute höchst umstritten. „Wir haben uns gemeinsam entschieden, als Teil der Bundesregierung Verantwortung für unser Land zu tragen“, schrieb Nahles an die Mitglieder. „Gleichzeitig arbeiten wir daran, die Partei wieder aufzurichten und die Bürgerinnen und Bürger mit neuen Inhalten zu überzeugen.“

Nahles wollte Klarheit

Beides zu schaffen, sei eine große Herausforderung. „Um sie zu meistern ist volle gegenseitige Unterstützung gefragt“, so Nahles. Ob sie die nötige Unterstützung habe, sei in den letzten Wochen wiederholt öffentlich in Zweifel gezogen worden. „Deshalb wollte ich Klarheit. Diese Klarheit habe ich in dieser Woche bekommen.“

Als mögliche Nachfolger von Nahles an der Parteispitze wurden bisher vor allem die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig und der niedersächsische Regierungschef Stephan Weil gehandelt. Als möglicher Kandidat für den Fraktionsvorsitz gilt der bisherige Vizechef Achim Post.

Wann genau der Machtwechsel in Fraktion und Partei erfolgt, ist noch unklar. Eine Neuwahl in der Fraktion könnte schon am Dienstag erfolgen. In der Partei ist es komplizierter. Der nächste Parteitag ist für Dezember geplant. Sollte der Wechsel früher vollzogen werden, wäre dafür ein Sonderparteitag notwendig. Denkbar ist auch, dass es - wie schon in früheren Fällen - zunächst eine Übergangslösung gibt. Die „Bild“-Zeitung berichtete, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer könnte den Parteivorsitz kommissarisch übernehmen.

Rückendeckung von Kollegen im Parteivorstand

Über den Zeitpunkt für die Rückgabe ihres Bundestagsmandats wolle Nahles zunächst mit ihrer Landesgruppe im Bundestag und und ihrem Landesverband in der Partei beraten, hieß es in ihrem Umfeld. Kurz vor ihrer Entscheidung hatte sie noch demonstrative Rückendeckung von ihren Stellvertretern im Parteivorstand bekommen. Auch das konnte sie aber nicht mehr von ihrer Entscheidung abhalten.

Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) bedauerte den Rücktritt. „Das Land und die SPD haben Andrea Nahles viel zu verdanken“, sagte der Finanzminister. In schwierigen Zeiten habe sie die Verantwortung übernommen und den Erneuerungsprozess in der Partei begonnen. „Die SPD befindet sich nicht erst seit der Europawahl in einer schwierigen Lage – wichtig ist daher, dass wir zusammenbleiben und die nächsten Schritte gemeinsam gehen.“

Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner warnte vor Schnellschüssen. Er zollte Nahles „allergrößten Respekt“ und kritisierte den Umgangsstil in der Partei, der „in den letzten Tagen und Wochen überhaupt nicht vom sozialdemokratischen Grundwert der Solidarität geprägt“ gewesen sei.

Auswirkungen auf Koalition noch unklar

Der SPD-Abgeordnete Florian Post nannte den Rücktritt dagegen „richtig und konsequent“. Er sagte der dpa: „Das war die letzte Möglichkeit, den Riss und die Spaltung wieder zu kitten.“ Post hatte Nahles in den vergangenen Tagen scharf kritisiert. In der Fraktion sei nun bis Dienstag Zeit, dass sich Kandidaten melden. Er gehe davon aus, dass mögliche Bewerber bereits an exponierter Stelle in der Fraktion gestanden hätten und den Abgeordneten deshalb bekannt seien.

Welche Auswirkungen der Rücktritt Nahles’ auf die Große Koalition haben wird, ist unklar. Die CDU-Führung riet zur Besonnenheit. Alle in der CDU sollten die eigene Bereitschaft verdeutlichen, weiter dem Regierungsauftrag gerecht zu werden, hieß es am Sonntag in der CDU-Führung. Die CDU-Spitze wollte sich noch vor Beginn der Spitzenklausur am späten Nachmittag über das weitere Vorgehen beraten.