Der SPD-Chef Martin Schulz versucht beim Parteitag, seinen Genossen die Angst vor dem Regieren zu nehmen. Das gelingt ihm nur mühsam.

Berlin - Um 20 Minuten vor acht erreicht SPD-Chef Martin Schulz, der bei der Bundestagswahl so grässlich Schiffbruch erlitten hat, endlich das rettende Ufer. Die Genossen wählen ihn am Donnerstagabend ein weiteres Mal zum Parteichef – mit 81,9 Prozent. Passabel, kann man sagen, nach all dem, was war. Kurz zuvor haben sie auch seiner Bitte entsprochen, ergebnisoffene Gespräche mit der Union führen zu dürfen, nach fünf Stunden Debatte. Er hat freie Hand – zumindest für ein paar Wochen. Denn nach den Sondierungen soll ein weiterer Parteitag über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen abstimmen.

 

Man kann nur erahnen, wie schwer der Stein ist, der Martin Schulz in der Berliner Messehalle in diesem Moment vom Herzen fällt. Er umarmt die Genossen der Parteiführung wie Brüder und Schwestern, ergriffen von diesem Moment blinzelt er ins Publikum. „Vielen, vielen Dank für diesen Vertrauensbeweis“, sagt er. „Am 19. März habt ihr mich mit 100 Prozent ausgestattet, ein schöner Moment, aber danach kamen schwierige Zeiten“, erinnert er sich. „Jetzt habt ihr mich mit 81,9 Prozent gewählt, jetzt hoffe ich, dass bessere Zeiten kommen.“

Vor neun Monaten noch schien Schulz über das Wasser laufen zu können

Tatsächlich ist es erst neun Monate her, da schien die SPD zu glauben, dieser Martin Schulz könne übers Wasser laufen, mindestens aber Angela Merkel aus dem Kanzleramt kicken. Schulz-Devotionalien wurden auf dem Parteitag im März gereicht, er wurde bejubelt wie ein Stadionrocker. „Straight outta Würselen“, seinem Heimatort, stand damals auf Jutebeuteln. Heute müsste es heißen: „Straight outta hell“.

Denn so gut wie alles ging schief seit seiner Kür im Frühjahr. Drei Landtagswahlen wurden verloren. Nordrhein-Westfalen fiel in die Hände der Union, die Bundestagswahl endete im Desaster, dem schlechtesten SPD-Ergebnis im Nachkriegsdeutschland. Und nur einmal noch jubelten ihm die Genossen seitdem so euphorisch zu wie damals. Das war am 24. September, am Abend der Bundestagswahl, als Schulz klipp und klar sagte, dass der Weg der SPD in die Opposition unumkehrbar sei.

Und nun? Vom Niemals-Groko-Versprechen des Wahlabends – am Tag nach dem Scheitern der Jamaikasondierungen im November nochmals mit einem einstimmigen Vorstandsbeschluss bestätigt – ist nach einem dramatischen Appell von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und nach vielen internen Debatten nicht mehr viel geblieben. Nun soll doch ergebnisoffen mit der Union geredet werden. Dabei ist für viele Delegierte allein der Gedanke an eine Neuauflage der großen Koalition so reizvoll wie die Vorstellung, Erbrochenes abermals essen zu müssen. Ähnlich unerträglich ist für viele allerdings auch der Gedanke an eine Neuwahl.

Es ist eine Zerreißprobe für eine verunsicherte Partei

Es sind Tage, in denen die Mitglieder einer völlig verunsicherten Partei somit in zwei entgegengesetzte Richtungen drängen. Man nennt das: Zerreißprobe. Schulz ist sich dessen bewusst. Er knetet in den Sekunden vor seinem Redebeginn die Finger, er kratzt sich den Bart, er sitzt stocksteif da auf dem Podium, und seine Gesten sind so leicht zu lesen wie ein offenes Buch. Er hat Bammel, fürchtet den Moment, der ihm bevorsteht. Aber es hilft nichts. Will er Vorsitzender bleiben, darf er die vielleicht wichtigste Rede seines Lebens nicht in den Sand setzen. So einfach ist das – und so schwer.

Er versucht es erst mal auf die rheinische Art. Er schmeichelt. Lässt es menscheln, warme Worte sollen Zusammenhalt stiften. Der zweite Akt der vorsichtigen Annäherung an die schwer berechenbaren 600 Delegierten: Demut und Einsicht. Er habe ja schon so manches durchgemacht, aber so ein Jahr habe er „noch nie erlebt“, das könne man „nicht einfach abschütteln“. Man sei nach dem zwischenzeitlichen Höhenflug auf 30 Prozent und mehr wieder da gelandet, wo man am Jahresanfang in Umfragen gestartet sei, bei rund 20 Prozent. „Das ist hart, das ist bitter“, so Schulz, und weil so viele Menschen so große Hoffnungen in ihn gesetzt hätten, hält er es für angezeigt, sich kurz mal in den Staub zu werfen. „Ich bitte für meinen Anteil an dieser bitteren Niederlage um Entschuldigung.“

Er macht aber auch schnell klar, dass dieser „Anteil“ seiner Ansicht nach ziemlich genau ein Vierzigstel der Gesamtverantwortung ausmacht, mithin ziemlich vernachlässigbar wäre. Zehn Millionen Wähler habe man seit 1998 verloren, sagt er. Man müsse deshalb nicht nur das von ihm verantwortete halbe Jahr vor der Bundestagswahl aufarbeiten, sondern die letzten 20 Jahre. Der Beifall bleibt spärlich.

Schulz fängt an zu brüllen

Das Eis ist in diesem Moment dick, das noch geschmolzen werde muss, will Martin Schulz zum tiefen Grund der Parteiseele vorstoßen. Er ist das nicht gewohnt, er wirkt verunsichert. Mit dieser gefühligen Art hat er noch vor Kurzem die Hallen zum Kochen gebracht. Aber diesmal kocht nichts. Er fängt an zu brüllen, als mache ihm die Macht der eigenen Stimme Mut in dieser klammen Stille, die weite Teile seiner Rede begleitet.

Er redet von neuen Visionen, von fehlendem Profil im Wahlkampf, aber seine Therapieempfehlung ist dann doch weitgehend wieder sein Wahlprogramm, garniert mit ein paar Selbstverständlichkeiten wie der Geißelung von Sexismus und der Kampfansage an rechtspopulistische und nationalistische Kräfte in Europa. Apropos Europa, hier legt er die Latte dann doch deutlich höher als im Wahlkampf, fordert die Vereinigten Staaten von Europa bis 2025, versucht mit seiner Herzensangelegenheit ein Projekt zu entwerfen, das am Ende möglicher Verhandlungen mit der Union die SPD-Mitglieder vielleicht ähnlich mitreißen könnte wie noch vor vier Jahren der Mindestlohn.

Denn das ist ja eines von zwei Hauptproblemen für jene, die einer großen Koalition gegenüber nicht abgeneigt sind. Es gibt diesmal keinen vergleichbar dicken Fisch, den die SPD in Koalitionsverhandlungen an Land ziehen könnte. Fast noch schwerer zu überwinden ist das zweite Problem: 2013 gab es die Hoffnung, man werde nach der schönen sozialdemokratischen Bescherung bei den Koalitionsverhandlungen von den Wählern vier Jahre später sicher reich beschenkt werden. Pustekuchen!

Die SPD müsse nicht um jeden Preis regieren, sagt der Chef

Europa also soll die Genossen dazu bewegen, sich doch so gebraucht zu fühlen, dass sie ihre Bedenken überwinden. Nichts, so Schulz, sei ohne die Einheit Europas zu bewegen. „Europa ist unsere Lebensversicherung“, sagt Schulz. Man kann anfügen: seine auch. „Eine starke SPD ist notwendig, um Deutschland stark zu machen, und ein starkes Deutschland ist nötig, um Europa stark zu machen.“ So klingt einer, der regieren will. Mag der Antrag des Parteivorstands noch so sehr darauf pochen, dass die Gespräche mit der Union ergebnisoffen geführt werden, und mag Schulz auch selbst beteuern, für alles offen zu sein.

„Auf den Inhalt kommt es an, nicht auf die Form“, sagt Schulz, dessen Rede für die Union in dieser Vorweihnachtszeit wie ein unangenehm teurer, sehr langer Wunschzettel wirken muss. Die SPD müsse „nicht um jeden Preis regieren“. Aber man dürfe „auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen“. Über die Form der Zusammenarbeit mit der Union könne man ja reden, aber erst, wenn man wisse, was zu holen ist. Und natürlich werde der Prozess der Erneuerung weiter vorangetrieben. Erst die politischen Inhalte „und kein Automatismus in irgendeine Richtung“. Für ein solches Vorgehen, so der Parteichef, „gebe ich euch meine Garantie“. Am Ende erntet Schulz pflichtschuldige Ovationen, aber immerhin auch keinen offenen Protest.

Andrea Nahles hält eine aggressive Rede

Die Aussprache zu seiner Rede wird zur Nagelprobe. Für eine große Koalition wirbt keiner offen. Bestenfalls wird, wie von Niedersachsens Ministerpräsidenten Stephan Weil, um die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung in welcher Form auch immer geworben. Zwar werben nur wenige für einen frontalen Crashkurs gegen eine große Koalition, diese legen sich aber umso leidenschaftlicher ins Zeug, so wie der neu gewählte Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert. Seine Jugendorganisation hat die Online-Initiative „No-Groko“ auf den Weg gebracht, hat den Ausschluss der Groko beantragt, weil eine große Koalition der SPD endgültig die Luft abschneiden würde. Er wolle als junger Mensch später mal Verantwortung übernehmen können, aber eben deshalb wolle er, „dass von dieser Partei noch was übrig bleibt, verdammt noch mal“. Da toben die Delegierten in der Berliner Messehalle.

Die Stimmung ist deshalb schwer zu deuten, Vernunft ringt mit Gefühl, Kopf mit Bauch. Die gesamte Parteiführung wirkt gehemmt, keiner will Fehler machen. Es ist Fraktionschefin Andrea Nahles, womöglich mit dem besten Gespür für die Partei gesegnet, die mit einer aggressiven Rede versucht, eine Richtung zu geben, man könnte auch sagen: zu führen. Man solle ihr gefälligst abnehmen, dass sie ergebnisoffen verhandeln werde. „Wenn ich einigen hier zuhöre, dann springt mich die Angst an, Angst vor dem Regieren“, ruft sie in den Saal. Und Angst, so Nahles, könne „überhaupt kein Maßstab sein, um eine Entscheidung zu treffen“. Die Union, vor allem Merkel, müsse sich warm anziehen. „Wir verschenken nix“, brüllt sie. Und Merkel hielt sie entgegen: „Wir werden gebraucht, bätschi, und das wird ganz schon teuer, bätschi.“ So richtig lacht da keiner, der Applaus ist eher mäßig.

In solchen Augenblicken wird deutlich: Dieser Parteitag kann keine Brücken schlagen, der Graben bleibt bestehen, das Leiden geht weiter. Aber wenn die SPD eines kann, dann leiden.